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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Frühling die grüne Explosion des Waldes, die Seeschwalben und das endlose Wasser. Jetzt sind Fahrten ans Meer langweilig. Keine ausgelassenen Picknicks mehr. Ein zerfetzter Vorhang, der den Strand unterteilt. Die Hitze von Blicken, die sich niemals abwenden.
    Wochenlang trifft sich Reza in der Berghütte mit Saba. Manchmal kommt er in dem grünen Paykan, den er sich mit anderen teilt. Wenn er nicht so viel Zeit hat, rast er auf einem geliehenen Motorrad zu ihr, oder er fährt per Anhalter auf von Tagelöhnern überfüllten Pick-ups mit. Sie verbringen viele Nachmittage und Abende dort in Sabas heimlichem Refugium. Sie lieben sich unablässig, obwohl sie sich zuerst davor fürchtete. Sie fragte sich, ob sie es überhaupt tun sollte, ob es nicht ebenso schmerzen würde wie der
dalak
-Tag. Aber dann, bei ihrem ersten Treffen, berührte Reza ihre Wange, als würde er ein junges Vögelchen in der Hand halten, und plötzlich waren sie beide nicht mehr so verlegen. Er missdeutete die Angst in ihren Augen als Erinnerungen an Abbas. Zu was hatte er sie gezwungen? Sie lachte, und dann verbrachten sie den Abend einfach nur damit, über Musik und die alten Zeiten zu reden. Später in der Nacht merkte sie, dass es nur ein bisschen wehtat. Und beim zweiten und dritten Mal tat es überhaupt nicht mehr weh. Sie hatte einen brennenden Schmerz erwartet – wie an dem Tag damals. Aber hinterher summt immer die Haut ihrer Finger – eine wunderbare Überraschung. Wie kann Haut summen? Anscheinend kann ihr Körper Dinge, die sie bislang übersehen hat.
    Manchmal fällt es ihr schwer, gleich danach aufzustehen, dann benutzt Reza im Scherz einen verbreiteten, aber vulgären Ausdruck, der in etwa »blöd gevögelt« bedeutet und den sie aus dem Munde der Dör f ler schockierend fand, über den sie jetzt aber lachen muss. Manchmal brummt er, wenn sein Dreitagebart über ihren Bauch streicht, als würde er dem Ungeheuer etwas zuflüstern, dem wilden, hungrigen Etwas, das barfuß darin herumläuft, oder vielleicht ihrem zukünftigen Kind. Es ist ein animalischer Teil von ihm – und es ist herrlich. Manchmal jedoch, wenn es dunkel ist, meint sie zu sehen, dass die Schatten an der Wand sich verdichten und zu den Silhouetten der beiden fleischigen Frauen aus einem anderen Leben zusammenfließen. Sie sind hier in der Hütte, über sie gebeugt. Aber sie bleiben nie sehr lange. Saba schiebt sie weg, verbannt sie in einen anderen Bereich ihrer Erinnerungen, auf den Speicher oder in den Keller, dahin, wo man Dinge einlagert, die man nicht mehr jeden Tag braucht.
    Sie liest »Die Sünde« von Forough Farrokhzad, ein Gedicht, das sie erst jetzt versteht.
    Gesündigt hab ich, gesündigt voller Lust … O Gott, ich weiß nicht, was ich tat.
    Trotz der Freude über ihr neues Geheimnis hat sie Ponneh gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil sie ihr Trio aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Schon als sie noch Teenager waren, wurde Ponneh immer ganz still, wenn Saba Reza erwähnte, und fürchtete, sie beide zu verlieren.
    Als der Herbst zu Ende geht, wünscht sie sich nicht mehr, weglaufen zu können. Sie hört auf, nach ihrer Mutter zu suchen, behält aber ihre zusammengetragenen Materialien. Passanträge, Visa-Richtlinien und Informationen über Kalifornien, all das ist und bleibt ihre tröstende Schmusedecke aus Papier, doch seit Beginn ihrer Romanze mit Reza ist es keine Obsession mehr. Sie fängt an, über eine alternative Zukunft nachzudenken, sieht sich wieder als Ehefrau, aber diesmal eine, die geliebt wird und sexy ist wie die Schauspielerin Azar Shiva, voller Leben, von ihrem Mann angehimmelt. Vielleicht kann sie eines Tages Mutter sein, eine starke, prinzipientreue Mutter, wie ihre eigene. Insgeheim stellt sie sich Rezas Kinn, seine Nase, seinen Mund in den Gesichtern ihrer zukünftigen Kinder vor. Dieser Tagtraum fällt ihr leichter als ihre Amerika-Träume, die durch die Angst vereitelt werden, einen ersten Schritt zu tun. Nichts hält sie mehr davon ab, ein Visum zu beantragen. Warum hat sie es noch nicht getan?
    Sie sagt sich, dass sie noch ein bisschen warten wird. Wenn sie in Amerika ist, wird dort alles seltsam und fremdartig sein; sie wird diese Zeit mit Reza erlebt haben wollen, um Trost in der Erinnerung zu finden.
    Bei ihrem vierten Treffen in der Hütte, am späten Nachmittag, als die Luft schwer ist und die Wände feucht sind vom Meerwasser, das durchs Fenster gekommen ist und sich auf ihre Körper gelegt hat, als Reza in ihren

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