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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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verlieben? Nicht mal diese kurzen Geschichten kann Reza verstehen. Und schlimmer noch, falls sie je eigene auf Englisch schreibt, wird er niemals in der Lage sein, sie zu lesen.
    Aber vielleicht ist das jetzt der Schlussstrich unter ihrem Unglück. Bestimmt ist auch Unglück endlich, und eine einzige Pechsträhne kann hoffentlich den Unglücksvorrat für ein ganzes Leben aufbrauchen.
    Reza kommt zögernd herein, fragt, was sie hat, ob etwas passiert ist.
    »Geh«, sagt sie und hofft, dass er wütend wird, dass er sie aus dieser Stimmung herausreißt. Doch Reza nickt nur und schließt die Tür.
    Von düsteren Gedanken überwältigt, döst sie eine Weile vor sich hin, bis sie schließlich aufgibt und nach ihren Kopfhörern greift. Sie hört sich eines ihrer alten Lieblingslieder von Melanie Safka an, und der Text lindert das Schuldgefühl tief in ihrer Brust. Sie summt die Worte mit und amüsiert sich darüber, dass dieser Song nicht konfisziert wurde. Melanies Kleinmädchenstimme und die dürftigen Englischkenntnisse der
pasdars
haben dazu geführt, dass sie ihn für ein harmloses Kinderliedchen gehalten haben, in dem es ums Rollschuhlaufen geht.
    For somebody who don’t drive,
    I’ve been all around the world,
    Some people say I’ve done alright for a girl.
    * * *
    Sie träumt von ihren Eltern, die neben einer kindlichen Mahtab stehen. Sie sind zusammen, doch die Gesichtszüge ihrer Mutter sind noch die von vor zehn Jahren, während ihr Vater gealtert ist. Er bietet Mahtab getrocknete Sauerbeeren aus seinen Taschen an. Das war das Geschenk, das er immer für sie kaufte, bei allen weniger greifbaren Meilensteinen ihrer Kindheit – gebrochenen Herzen, Enttäuschungen, Fehlgriffen, Erfolgen. Selbst heute noch bringt er immer, wenn er Saba besuchen kommt, getrocknete Sauerbeeren mit. Er schickt sie mit dem Postboten oder bezahlt sie beim Obstverkäufer und lässt sie für sie zurücklegen. Nie vergisst er, dieses kleine tägliche Geschenk zu schicken, wohingegen er manchmal ihren Geburtstag vergisst.
    Die nächste Szene ist ein realer Moment, der sich wenige Tage vor ihrer Hochzeit ereignete – das einzige Mal, dass Khanom Basir versuchte, ihrem Vater die Stirn zu bieten. Sie klopfte eines Abends an seine Tür, als Saba gerade das Abendessen für ihn machte. Vom Hauptraum aus sah Saba, wie ihr Vater Haltung annahm, seinen dicken Bauch einzog und trotz des Alkohols und des Opiums, die sein Blut zäh und träge gemacht hatten, laut donnerte: »Es reicht!« Khanom Basir schnappte nach Luft und trat zurück. »Sie reden über meine
einzige
Tochter!«
    Meine einzige Tochter
. In dem Moment dachte Saba nicht an Mahtab. Sie ließ keine Erinnerungen an ihre Mutter zu, die im Flughafen ihre Schwester an der Hand gehalten hatte. Bei Hochzeiten spielen Väter eine entscheidende Rolle, und in dieser Hinsicht gibt es vieles, wofür sie dankbar sein kann.
    Sie erwacht und greift nach einem Stapel Blätter. Englische Wörter und halb vollendete Geschichten. Wenn ihre Mutter Sabas Geschichten heute hören könnte, wäre sie stolz darauf, wie viele Wörter sie kennt. Aber wem von ihren Freunden im wirklichen Leben kann Sabas letzte Geschichte anvertraut werden – die über Mahtab und ihren Ehemann und ihre große Lüge? Vielleicht wird sie sie irgendwann mal Khanom Omidi erzählen. Doch vorläufig bleibt sie einfach im Bett liegen und fabuliert für ihre Mutter. Die Mutter, die in ihrer Erinnerung lebt und mit der sie sich von Zeit zu Zeit unterhält. Sie kann bei niemandem sonst davon ausgehen, dass er wirklich zuhört und sie versteht. Was jetzt kommt, ist eine zu wunde Stelle, eine zu enge Verbindung, Sabas eigene geheime Vorratskammer.
    * * *
    Folgende Menschen hat Mahtab hinter sich gelassen:
    Khanom Judith Miller – denn Mahtab ist jetzt selbst eine gestandene Journalistin.
    Cameron den armen Arier – denn er hat gelogen, und diese Karte in ihrem Portemonnaie ist bloß noch ein Souvenir, ein Andenken.
    Babys – denn wohingegen ich vielleicht keine bekommen kann, will sie gar keine haben.
    Baba Harvard – denn er hat keine Arme, kein Lächeln, keine väterlichen Knubbel an den Schultern. Trotz seiner großen Taschen und seiner Belesenheit ist er herzlos. Er starrt mit akademischer Nonchalance, perfekter Haltung und vollkommener Selbstbeherrschung in deine tränennassen Augen und noch dahinter, und dann wendet er sich dem nächsten eifrigen Studentengesicht in der Reihe zu. Er hat zu viele Kinder, die um seine Gunst buhlen,

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