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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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und keine getrockneten Sauerbeeren in seinen Taschen, kein Blut in seinem Herzen. Er raucht nicht zu viel und trinkt nicht zu oft. Er vergisst niemals einen Geburtstag. Er hat Sekretärinnen, die für ihn Päckchen verschicken. Er hat kein Bedürfnis nach dir. Gute Väter haben Bedürfnisse.
    Ja, es gibt ein paar Dinge in meinem Leben, um die Mahtab mich beneidet. Ich habe so manches beobachtet, das sie gern mit ihren Journalistenaugen gesehen hätte, und ich habe einen Vater aus Fleisch und Blut.
    Aber sonst nichts, weil ich so feige gewesen bin. Ich weiß, dass ich später im Leben, wenn Mahtab schon längst außer Reichweite meiner Fantasie ist, zum Telefon greifen werde, weil ich über die auffälligen Übereinstimmungen in unserem Leben sprechen möchte, die vielen Streiche, die Blut und Schicksal uns gespielt haben und die uns zwangen, getrennt durch unendlich viel Land und Meer das gleiche Leben zu führen. Ich werde mir wünschen, dass ich stark genug, selbstbewusst genug gewesen wäre, um so zu leben wie sie, nicht so pragmatisch, nicht so risikoscheu. Ich werde meine Entscheidung beklagen, Reza geheiratet zu haben, weil ich zu ängstlich war, zu fliehen, meiner Zwillingsschwester und unserem gemeinsamen Traum zu folgen, hinaus aus diesem neuen Iran. Ich werde stattdessen an meine verlorene Schwester denken, mir den Hörer ans Ohr halten und ein Scheintelefonat mit ihr führen.
    Während ich mir an jenem Tag den Hörer ans Ohr drücke und das Dauertuten des Freizeichens ignoriere, wird mir zu spät klar werden, dass ich die Zeit, die ich mit Mahtab hatte, meinem anderen Ich, besser hätte nutzen sollen. Ich hätte mutiger sein sollen. Mahtab ist mutig. Es interessiert sie nicht, was sie sich nach Meinung der Welt eigentlich wünschen sollte. Sollen sich junge Bräute Babys wünschen?
Pfft!
Interessiert Mahtab nicht. Sie hat ihre eigenen Pläne. Das ist die Geschichte darüber, wie sie sich von der letzten und wichtigsten Einwanderersorge befreit, sodass sie keine Ausländerin mehr ist. Es geht dabei um Kinder und Geliebte.
    Nein, das stimmt nicht … Es geht um Väter und Töchter.
    Ich denke, mittlerweile ist Mahtab wahrscheinlich verheiratet, schließlich bin ich ja verheiratet, und sie ist mein Zwilling. Wen hat sie ausgewählt? Cameron? James? Jemand anderen? Zu Cameron kann sie nicht zurückgegangen sein. Er hat ein Geheimnis und lebt jetzt im Iran – hat gleichsam eine Art von Selbstmord begangen und sie mit Joghurtgeld zurückgelassen. Und James? Ist er nicht derjenige, den sie immer wollte? Ein blasser amerikanischer Prinz? Ich glaube, dass sie ihm seine eine Unzulänglichkeit verzeihen kann, so wie ich verziehen habe. Sie kann vergessen, dass er ein Feigling gewesen ist, zu schwach, um nach einer Reihe von Ereignissen, bei denen es unter anderem um einen abgebrochenen Absatz ging, zu ihr zu stehen. Ihr Weg zurück zu James beginnt folgendermaßen:
    Es ist Mai 1992, und sie steht kurz vor ihrem Abschluss in Harvard. Sie geht in ein italienisches Restaurant am Harvard Square, das von einem Vetter des Teheraners geführt wird. Aber sie weiß nichts von diesem Detail, das sie mit mir verbindet. Sie studiert die Speisekarte und überlegt, welche Pizza sie mit auf ihr Zimmer nehmen soll, wo sie den ganzen Abend packen will.
    James Scarret geht genau in dem Moment draußen vorbei, als sie aufblickt, und zum ersten Mal seit jenem Vorfall in der Bar lächeln sie beide, und er eilt nicht weiter. Er kommt zögernd herein, und sie erinnert sich an all das an ihm, das sie so fremdartig und faszinierend fand. Sein breites Kinn, das mit hellen Stoppeln bedeckt ist, das gleichfarbene Haar, ziemlich lang, mit einem rötlichen Schimmer. Der fast weiße Babyflaum auf seinen Armen. Das genaue Gegenteil von Cameron mit dem schwarzen Haar und den weichen Schauspielerzügen und dem übergroßen Selbstvertrauen in jeder Regung.
    »Isst du allein?«, fragt er. Sie bejaht. Er zögert, sagt dann: »Bleib doch.« Er forscht in ihrem Gesicht nach Zeichen der Ablehnung. »Wir sollten ein letztes Mal hier essen.«
    Ehe ihr ein Grund einfällt, Nein zu sagen, sitzen sie bereits an einem Tisch.
    Im Mai ist Cambridge wie neugeboren. Maman-dschan, hast du je den Harvard Square im Frühling gesehen? Haben dich deine Abenteuer in der Fremde dorthin geführt? Ich weiß, es gibt Einzelheiten, die ich mir nicht ausmalen kann, indem ich mir einfach nur die berühmten Filmaufnahmen aus der Vogelperspektive anschaue oder die Fotos einer

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