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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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mit ihrem Vater.
    Keine Islamische Republik Iran mehr. Aber auch kein Iran. Keine nebligen kaspischen Nachmittage. Keine dicken Suppen mehr, auf einem Dach in Masuleh direkt aus dem Topf gelöffelt. Keine Fahrten zum Strand durch baumbestandene Berge. Keine duftenden Reisfelder oder um hölzerne Torpfosten aufgehängte Knoblauchzöpfe.
    So vieles nicht mehr, aber vor allem: keine in Geschichten unscharf skizzierte Mahtab mehr. Es ist Zeit, sich etwas Konkretem zuzuwenden, die ganze Geschichte zu entdecken. All die Momente auszuleben, die sie ihrer Schwester gab, aus Angst davor, sie selbst zu leben.
    Sie achtet jetzt sehr darauf, alle Anzeichen ihrer bevorstehenden Abreise bis zum letzten Moment zu verbergen. Sie fährt nur an den Tagen nach Rasht und Teheran, wenn Reza Unterricht hat und Khanom Basir mit Khanom Alborz und Khanom Omidi Backgammon spielt, einkauft oder kocht. Sie bezahlt einen freundlichen Beamten dafür, dass er die Ausstellung ihres Passes beschleunigt und um Fragen nach ihrem Mann und der geplanten Reise zu vermeiden. (»Ich wollte schon immer mal nach Istanbul und Dubai«, erklärt sie ihm, und er lächelt und sagt, dass Istanbul sehr schön ist.) Als der Pass ankommt, versteckt sie ihn zusammen mit ihren Musikkassetten und ihren sechs Flugtickets. Sie fängt an, nach und nach ihre Bankkonten zu leeren. Sie denkt an Reza und welche Summe er benötigen wird, um sein Studium abzuschließen, ein kleines Stück Land zu kaufen und vielleicht sogar für Ponneh zu sorgen.
    Mit ängstlicher Fassungslosigkeit überfliegt sie die Liste von Anforderungen, die erfüllt sein müssen, um ein amerikanisches Visum zu bekommen.
Wirklich so viele?
Sie erinnert sich an einen Artikel in einer alten Ausgabe der
New York Times
, in dem ein reicher Iraner einem Amerikaner die verzweifelte Frage stellt, die schon so viele andere gestellt haben: »Warum lässt mich Ihre Regierung nicht in die USA einreisen?« Vielleicht ist es hoffnungslos. Sie studiert gerade mit langsam wachsender Mutlosigkeit einen der Visumanträge, als das Telefon klingelt. Sie geht nicht ran, sondern arbeitet weiter, verstaut unauffällig alles, was sie mitnehmen will, in einer Ecke des Schrankes, schiebt ihre zahllosen Notizen und Geschichten in ihr Tagebuch. Fünfzehn Minuten später klingelt es erneut. Sie hebt den Hörer ab und wartet.
    »Allo? Allo?«
, schreit der Mann am anderen Ende ins Telefon.
»Khanom Abbas?«
    Das war nie Sabas Name. Selbst Fremde haben sie seit über einem Jahr nicht mehr so genannt.
    Im Hintergrund hört sie eine Frau Anweisungen geben.
Sagen Sie’s ihr jetzt
, keucht sie, und als der Mann zögert:
Das ist doch wohl einfach, sehr einfach.
    Ein anderer Mann sagt der Frau, sie soll still sein, während der Anrufer weiterredet. Er stellt sich vor, ein arabischer Name, den Saba sofort wieder vergisst, und sagt ihr, dass er Anwalt ist. Sein Dialekt ist unverkennbar ländlich, und sie stellt sich ihn als einen klapprigen Mann mit schütterem Haar vor. Das Bild beruhigt sie. Der Mann erklärt ihr, dass er irgendwelche Angehörige ihrer Familie vertritt und dass er ihr demzufolge zu Diensten ist, sie aber von seinen Nachforschungen, Feststellungen und vorgeschlagenen Änderungen zu deren Gunsten in Kenntnis setzen muss. Saba hört schweigend zu, und mit jedem gesprochenen und implizierten Wort wird ihr klarer, worauf das hinausläuft. »Mein Mandant ist ein naher Verwandter. Daher wird er sich um Sie, die Witwe seines Bruders, kümmern.«
    »Das ist zu gütig«, sagt sie, »aber wirklich nicht nötig.«
    »Nein, nein. Das ist nur recht und billig, nachdem jetzt bewiesen ist, dass er und Abbas nicht nur eine gemeinsame Mutter haben, sondern auch einen gemeinsamen Vater.« Sie erinnert sich an den Bruder mütterlicherseits, der einen kleinen Teil ihres Erbes bekommen hat. Der Mullah hatte gesagt, der Mann wollte versuchen, den Beweis dafür zu erbringen, dass er nicht bloß ein Halbbruder ist. Sondern ein Haupterbe. Der letzte Satz klingt ihr noch im Ohr, und Saba überlegt, ob sie ihn einfach ignorieren kann. Aber natürlich wiederholt der Mann ihn.
    Wie ist das bewiesen worden?, denkt Saba. Welche Beweise hat er? Hat er jemanden kontaktiert? Was will er jetzt von ihr?
    Die Panik, die sie in diesem Moment erfasst – die Erkenntnis, dass alles, was sie jetzt sagt und tut, ihre gesamte Zukunft beeinflussen wird –, ist überwältigend. Sie presst den kalten Telefonhörer so fest ans Ohr, dass er einen roten Abdruck
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