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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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ihren Ängsten. Wenn sie ihre Töchter betrachtete, nagte sie sich die Lippen wund, weil sie wollte, dass die beiden ein Leben führen würden, das es nur im Märchen gibt. Und wenn das deine Aufgabe ist, hast du nichts zu suchen bei den Frauen, die beim Tee zusammensitzen und Freundschaften pflegen und sich gegenseitig die Augenbrauen zupfen. Für Ablenkungen ist keine Zeit. So war die Liebe ihrer Mutter. Hochfliegend, nutzlos.
    Sie hat diese Mädchen verdorben. Tief in ihrem Innern, wo niemand es sehen konnte, verkümmerte etwas. Ihr Vater war ihnen auch keine Hilfe – denn, ich frage Sie, wie soll ein Mädchen, dem gesagt wurde, es solle sich mit Hundertdollarscheinen abtrocknen, je irgendwem eine gute Ehefrau sein können?

Kapitel Drei
    Herbst 1988
    M it achtzehn hat Saba fünfhundert Seiten mit einfachen und ausgefallenen englischen Wörtern fertig, nicht bloß, um sie irgendwann ihrer Mutter zu zeigen – wenngleich die Hoffnung darauf nach sieben Jahren ohne eine Nachricht schwindet –, sondern auch, weil die Wörterlisten Teil ihres Lebens geworden sind. Saba hat seit ihrer frühen Kindheit mit einer für Gilan unerhörten Intensität Englisch gelernt und verspürt jedes Mal einen prickelnden Anflug von Stolz, wenn sie sich dabei ertappt, dass sie englisch denkt.
    Vile. Vagrant. Vapid.
    Saba schaut zu drei Mädchen hinüber, die in einer Gasse hinter einem Laden herumbummeln, der auf einer unglaublich kleinen Fläche einfach alles Erdenkliche zum Verkauf anbietet, nicht bloß Eier und Zucker, sondern Milch in Plastiktüten, die man in Behälter stellt und aufschneidet, Eingemachtes jeder Art, Safran, Seife, jede Menge Radiergummis, Spielzeuguhren, getrocknete Früchte, Oliven und Nüsse. Jeder Winkel ist vollgestopft, kunterbunt sortierte Regale, eins hinter dem anderen, ziehen sich an den Wänden entlang, Jutesäcke mit Reis umzingeln die Kasse, Knoblauchzöpfe hängen über der Tür. Saba hält ihren Binsenkorb fest, der jetzt mit Tee und Zucker gefüllt ist, und wendet sich von den Mädchen ab, die am hinteren Ende der Gasse dicht zusammenhocken. Sie tarnen es geschickt, aber Saba kennt sich aus und weiß, was sie da machen. Es ist eine intime Handlung, ein gemeinsam eingegangenes Risiko, in der Öffentlichkeit zu rauchen. Sie muss lächeln, als bei einem Mädchen träge Rauchwolken aus den Vorderfalten ihres blauen Tschadors steigen, einer unnötigen zusätzlichen Kleiderschicht, da ihre bunte mehrteilige Gilan-Tracht schon sittsam genug ist. Aber Tschadors eignen sich perfekt dafür, Dinge zu verstecken. Das Mädchen hat ihren über ein enges Kopftuch und einen langen Rock aus Grün- und Rottönen gezogen. Nicht, weil sie fromm ist, sondern weil sie sich schlicht langweilt, Spielchen spielt, so wie Saba mit ihren Freunden in der Vorratskammer.
    Über ihnen, hoch oben auf einer Telefonleitung, ruft eine Krähe.
    Es ist wieder Herbst. Der Boden ist mit zertretenen wilden Beeren bedeckt, mit Orangenschalenstücken und zusammengequetschten Dosen. Ein kühler Wind befördert Plastiktüten in Baumkronen. Nasse und trockene, rote und gelbe Blätter wehen über die Straße. Die Luft riecht nach Regen, als würde man sich ein Büschel nasses Morgengras unter die Nase halten. Saba fühlt sich hier bei den seligen Armen in einer Welt gefangen, die aus den vielen verstreuten Teilen unterschiedlicher Epochen besteht. Eine Gruppe älterer Frauen geht an ihr vorbei. Über ihre grellbunten Dorfkleider mit langen Röcken haben sie das gestrenge Schwarz der Städterinnen gestreift. Wahrscheinlich wollen sie mit dem Bus nach Rasht fahren oder zu einer heiligen Stätte, wo sie schwarze Krähen sein werden, die in der Schlange stehen und sich streiten und putzen. Saba nimmt sich die Zeit, all das an ihnen wahrzunehmen, was so ganz anders ist als bei ihrer Mutter mit ihren eleganten Kleidern, verbotenen Büchern und trotzigen roten Fingernägeln. Die Dorffrauen schlagen mit ihren Stoffflügeln und drängen sich zusammen. Eine von ihnen hat ihren Tschador zweimal fest um die Brust gewickelt und vorne zugebunden – ländlich praktisch, aber höchst unmodisch. Saba sieht ihre groß geratenen Hakennasen und die Art, wie sich eine andere das lose Tuch zwischen die Zähne klemmt, damit sie die Hände frei hat, um ihre Taschen tragen zu können. Ihre Lippen verschwinden hinter Schwarz, und plötzlich hat sie einen Vogelschnabel. Gleicht Saba eher Bahareh Hafezi oder dieser Frau?
    Sie grüßt mit einem Nicken und geht weiter.

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