Ein Teelöffel Land und Meer

Kinder waren. »Es ist der Name einer schönen jungen Frau. Soll ich’s dir beibringen?«
    Saba bleibt noch eine Stunde bei Ponneh sitzen, singt »Le Mendiant de l’Amour«, erzählt ihr Geschichten und bringt sie dazu, von einer Zeit zu träumen, in der sie beide verheiratet sind. Oder von einer Zeit, in der sie gemeinsam ein Geschäft in Teheran betreiben. Oder von einer Zeit, wenn Saba beim Präsidenten von Amerika Gehör findet und sie beide mit dem Brautgeld, das sie heimlich beiseitegeschafft hat, abhauen und dann in Washington leben, in dem großen weißen Präsidentenpalast, wo Mahtab sie besuchen kommt.
    * * *
    Ponneh-dschan, sei nicht traurig. Wir wissen alle, dass du niemals mit Mustafa mitgegangen wärst. Alle lügen. Jeder hat Geheimnisse. Erinnerst du dich an den Tag, als ich Khanom Mansuri gesagt hab, ich wäre zu erwachsen für Mahtab? Das war gelogen. Willst du eine Geschichte über sie hören? Ich kann eine richtig gute erzählen. Darin geht es um einen Brief über Harvard und einen Tag, an dem auch ihr ein Absatz abgebrochen ist. Wie du will sie ihn reparieren, und das führt sie zu einem dummen Jungen, wie Mustafa, wie Reza, wie jeder verwirrte Mann, der nicht weiß, wohin mit seinen Trieben. Aber anders als du und ich ist Mahtab vom Glück gesegnet und mutig und Amerikanerin. Deshalb kann sie, als ihr kaputter Schuh sie zu diesem Jungen führt, die Dinge so manipulieren, dass
er
derjenige ist, der schließlich hil f los am Boden liegt. Ist das nicht wunderbar, Ponneh-dschan? Warte nur, bis du den Rest gehört hast …
    Ponneh, warum weinst du denn? Nicht weinen. Ich dachte, das würde dir helfen.
    Also gut, keine Geschichten. Vergiss die Geschichte, bitte. Ich erzähl sie ein anderes Mal, anderen Ohren … Komm, wir gehen zu mir nach Hause. Ich wette, wenn keiner aufpasst, führt Reza uns vorne im Hof all seine Fußballkunststückchen vor. Oder wir gehen in die Vorratskammer und rauchen, nur wir drei, wie immer. Wir überreden ihn, dass er die alte
setar
seines Vaters mitbringt, und wir setzen uns im Kreis, sodass unsere nackten Füße seine berühren, und sehen ihm zu, wie er so tut, als würde ihn das nicht erregen. Gib’s zu, Ponneh, findest du das Gefühl seiner nackten Haut nicht herrlich, auch wenn es nur ein Fuß ist und sonst nichts? Hinterher, wenn wir beide dann allein sind, können wir die ganze Nacht über die blauen Adern sprechen, die zu seinen Zehen führen, und uns fragen, wann wir sie wieder sehen und berühren können, an den Händen oder Füßen irgendwelcher Männer. Wir können uns an den Kräutern aus seinem Plastikbeutel berauschen, und er kann die Melodie seines Liedes klimpern – das über die Heimat, die allmählich verblasst. Seine Finger werden die Saiten kaum berühren, sodass niemand sonst die kleinen Funken aus Musik zwischen unseren aneinandergeschmiegten Schultern hören kann.

Reis, Geld, Kopftücher
    Khanom Basir
    M ahtab und Saba konnten sehr gut lügen. Sie lernten das schon als Kinder von den Geschichtenerzählern und den Übertreibern und den
tarof
-Spielern im Ort. Sieh sich einer nur dieses unsinnige Mahtab-in-Amerika-Fantasie-
bazi
an. Saba weiß, dass sie lügt, aber sie behauptet, sie hätte diese oder jene Quelle, bloß um mich zu ärgern. Aber wer kann es dem Mädchen verübeln? Lügen ist heutzutage eine notwendige Fähigkeit. Wir müssen alles verbergen, was Spaß macht – Musik, Alkohol, übermäßige Freude und hübsche Kleidung.
    In Häusern überall im Iran (vor allem an Orten wie Hamadan, wo der Vater meiner beiden Söhne Reza und Peyman aufgewachsen ist, wo die Winter bitterkalt sind und du dich nur an den Freunden, deiner Wasserpfeife und deiner Musik wärmen kannst) ist die
korsi
-Decke der beste Ort, um Lügen zu erzählen. Hier lässt du dir Geschichten auftischen – ein sehr persischer Zeitvertreib, weil du hinterher Joghurt über die Lügen verteilen kannst,
gespielte Unschuld
, oder du kannst den kleinen Vers mit
maast
und
dugh
aufsagen und alles wieder weiß wie Milch machen. Und wie könnte man da widerstehen? Die kaspische Luft beflügelt kreative Köpfe, Künstler, und da spielt es keine Rolle, ob du bloß eine namenlose Frau vom Lande bist. Es spielt keine Rolle, ob deine eigene Geschichte längst langweilig geworden ist. Hier, unter der Decke, spornen dich die Geister der Nacht an, die vielen gespannten Augen rund um das
korsi
, und die Wasserpfeife verändert deine Gedanken, verlockt dich, ein gutes Märchen zu spinnen.