Ein Teelöffel Land und Meer

dieser alten Frau auf die Welt. Irgendwie zwingt sie die dunkleren Wahrheiten, aus dem Nichts aufzutauchen. Das hat nichts mit der Kunst des
maast-mali
zu tun, bei der es darum geht, die Wahrheit zu verzerren. Nein, es ist das genaue Gegenteil, wie das Herausmeißeln eines zarten Vogels, der in einem formlosen Felsen versteckt war.
    * * *
    Bitte denk nicht, dass meine Schwester mich vergessen hat, bloß weil sie sich schon länger nicht gemeldet hat. Ich hab so viele Geschichten über sie zu erzählen, aber jetzt sollst du die hier hören, weil ich nämlich recht gehabt habe. Sie hat es tatsächlich fertiggebracht, eine weitere große Einwanderersorge loszuwerden. Ihr ist etwas gelungen, das ich nicht geschafft habe: Sie hat zugegriffen und die Kraft bewiesen, Nein zu sagen, die Stärke, alles zu tun und zu besitzen – den größten Erfolg, endlose Möglichkeiten. Und gemacht hat sie das folgendermaßen:
    Mahtab schlendert über den Harvard Yard – der aus der Vogelperspektive wie der gelehrteste Ort auf Erden aussieht –, ihren schwarzen Wintermantel hat sie fest um den Körper gezogen, und ihre Stiefelabsätze klackern zögerlich, während sie Löchern und Rissen in dem mit Ziegelsteinen gepflasterten Fußweg ausweichen. Für ihre Kommilitonen ist Mahtab ein Rätsel. Auf den ersten Blick ist sie eine junge Bilderbuchamerikanerin. Kastanienbraunes Haar. Elegant gekleidet. Selbst ihre Haut wirkt heller, denn unter dem gepuderten Porzellanteint zeigt sich kein Olivton mehr. Und doch ist sie für sie irgendwie unerreichbar. Tatsächlich fühlt sich Mahtab in Harvard fremder denn je. Sie ist nicht gut darin, Freundschaften zu schließen, was Zwillingen immer schwerfällt. Sie hat Maman schon seit Wochen nicht mehr angerufen.
    »Der Teil gefällt mir nicht«
, sagt Khanom Mansuri.
»Warum muss sie denn so allein sein?«
    Du hast recht. Und allmählich spürt sie tatsächlich das Bedürfnis nach etwas – aber nicht nach Zuneigung oder Liebe. Obwohl meine Schwester bereit ist für ihre eigene
Love Story
, will sie mich nicht ersetzen. Sie wünscht sich eine neue Art von Erfüllung. Jemanden, der sie als qualifiziert für diese Welt betrachtet – vollständig und frei von allem, was Cheshmeh ausmacht. Diesen Jemand findet sie im Winter eines weiteren Collegejahres – dank eines kaputten Paars Stöckelschuhe.
    Ja, ja,
genau
wie das andere kaputte Paar Stöckelschuhe. Ich hab versucht, Ponneh diese Geschichte zu erzählen, und sie wollte sie nicht hören. Aber du weißt, dass es zwischen Zwillingen geheime Bande gibt. Weißt du noch, was du uns über den unsichtbaren Faden erzählt hast?
    Also, kommen wir zu der Kulisse, vor der sich Mahtabs neues Leben abspielt. Die unterscheidet sich sehr von Cheshmeh. Mahtab ist in ihrem ersten oder zweiten Studienjahr, ich hab den Überblick über die Abläufe und Semester verloren, aber ich weiß, dass sie in einer winzig kleinen Dachkammer mit einem runden Fenster wohnt, durch das sie den Charles River und eine nebelige, verschwommene Brücke mit Straßenlaternen sehen kann. Das Zimmer liegt über einer berühmten Bibliothek, in der die Unterschriften von fast allen US -Präsidenten und ein von T. S. Eliot signiertes Buch aufbewahrt werden. Und nein, ich übertreibe nicht, ich habe in einem Reiseführer über diese Bibliothek gelesen. Stell dir einen Samstagabend vor – der Abend in der Woche, an dem amerikanische Studenten etwas unternehmen. Mahtab schickt sich stattdessen an, in die Bibliothek zu gehen. Sie will die Beste sein. Sich für Baba Harvard anstrengen, ihren neuen Vater. Ist das nicht typisch Mahtab?
    Als sie sich an diesem Abend die Schuhe anzieht, bricht der verhängnisvolle Absatz in ihrer Hand ab.
    Sie klopft bei ihrer Nachbarin an. Clara, eine übertrieben feminine junge Frau aus dem amerikanischen Nordosten, öffnet die Tür. Sie nennt meine Schwester »May«, und wenn sie den Kopf schief legt, fällt eine ganze Reihe von hellbraunen Locken auf eine Seite. Hast du je
echte
amerikanische Locken gesehen, wie die von Shirley Temple oder von der Frau, die sie Steel Magnolia nennen? Ich hab sie nur auf einem Foto gesehen, aber der Teheraner hat versprochen, mir den Film zu besorgen, wenn es ihn endlich auf Video gibt. Mahtab hält den Schuh hoch und fragt, ob Clara vielleicht Kleber dahat. Von drinnen hört sie verschiedene Stimmen und das Klackern von Absätzen auf Parkett. Jemand lacht und kommt in einem dünnen Kleid, aber ohne Schuhe aus dem Zimmer