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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Zuckerguss darauf. Und der Lieferjunge, dem nicht klar war, dass
dschun
»Liebes« bedeutete, erklärte ihr, sie hätte einen Kuchen von jemandem namens Dschun.
    Mahtab Dschun
. May June.
    Sie spielten dieses Spiel, bei dem er versuchte, ihr Herkunftsland zu erraten und sogar ihre Stadt. Dann küssten sie sich auf der Straße, und sie dachte, wie leicht es doch war. Sie registrierte genau seinen warmen, tomatigen Atem, seine schmale Unterlippe und die Art, wie er seine Hände von den Teilen ihres Körpers weghielt, von denen sie wusste, dass er sie nur zu gerne berührt hätte.
    »Saba-dschan«, sagt Khanom Mansuri, »woher weißt du so was? Vielleicht sollten wir darüber reden, was nach einer Hochzeit passiert … oder weißt du, was? Wir rufen Khanom Omidi! Sie wird dir Geschichten erzählen, bei denen dir vor Schreck Hörner wachsen, obwohl sich bei der noch nie ein Mann beschwert hat, nach allem, was ich so höre. Ja, jetzt, wo du verheiratet bist, wirst du diese Dinge erfahren müssen.«
    Was ist los? Denkst du etwa, ich wüsste nichts? Ich glaube nicht, dass die Leute so belehrt werden müssen, wie du glaubst. Sieh dir zum Beispiel Mahtab an. Sie fragt sich, woher sie dies oder das einfach weiß. Wer hat ihr beigebracht, was sie in solchen Situationen mit James machen soll? Ich muss es nicht selbst erleben, Khanom Mansuri. Ich kann so tun als ob. Gott weiß, wenn meine Zeit mit dem alten Mann kommt, werde ich jeden Instinkt unterdrücken, mich gedanklich an einen anderen Ort, in eine andere Zeit versetzen. Die Geschichte, die ich mir im Geist vorstellen werde, habe ich schon ebenso parat wie das Lied, das mich dorthin versetzt. Aber ich brauch keinen Unterricht. Ich weiß schon viel. Ich habe tausend Bücher gelesen, ein ganzes Meer von Illustrierten, und ich schaue amerikanisches Fernsehen.
    Zwei Wochen später sitzt Mahtab in einem Café und wartet auf James, der ihr gerade einen Kaffee holt. Sie fragt sich, was die Leute in Cheshmeh wohl
davon
halten würden: ein feiner amerikanischer Junge, der für sie einen Kaffee holt. Sie sieht zu, wie er an der Theke die genau richtige Menge Milch und braunen Zucker in ihren Kaffee rührt. Das Hochgefühl steigt auf und zerplatzt in ihrer Brust wie eine Seifenblase aus einer Fernsehwerbung, wodurch sich der Wust an Verbitterung, der sich dort festgesetzt hat, zum großen Teil löst. Sie hat jetzt das Gefühl, wichtig zu sein, weil jemand wie James weiß, wie sie ihren Kaffee trinkt, was sie gern zum Frühstück mag und dass sie mit Löffeln statt Gabeln isst und sich nur von einer Mahlzeit mit Reis wirklich gesättigt fühlt. Diese kleinen Winkel in James’ mentalem Raum sind greifbare Orte, die sie besitzt und besetzt und die sie irgendwie realer machen. Inzwischen sind die Augenblicke selten, in denen sie sich selbst am Rande jeder Szene hängen sieht, zerrend und sich abkämpfend, um zu bleiben, wo sie ist, während irgendwer weit weg sie an einer straff gespannten Leine zurückhält. Weißt du? So wie alle Einwanderer, denen das Beste einer neuen Welt dargeboten worden ist, fürchtet auch Mahtab unentwegt, dass es ihr wieder genommen werden wird. So würde auch ich mich fühlen – voller Angst, etwas Falsches zu tun, alles zu verlieren. Immer leidet sie unter der furchtbaren Vorstellung, dass die Person mit der Leine irgendwann kräftig daran ruckt und Mahtab fortreißt. Aber jetzt, wo sie mit James zusammen ist, ihrem eigenen blassen Prinzen, kann sie diesen unsichtbaren Faden vergessen, der sie zu ihrem anderen Ich hinzieht.
    »Meine Saba, diese Passagen machen mich so traurig.«
    Sei nicht traurig. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich werde glücklich sein, selbst wenn es ein Fehler war. Wie groß sind denn die Chancen, dass ein perfekter Mann wie James mich hier findet? Das, was Mahtab hat, kann ich nicht haben. Aber wer weiß, Khanom Mansuri, es ist nicht ausgeschlossen, dass Mahtab ihn um anderer Dinge willen verlässt. Kannst du dir das vorstellen? Dass eine junge Iranerin einen solchen Mann zurückweist, während ich gezwungen war, einen Mann zu akzeptieren, der so viel weniger zu bieten hat? Die Idee gefällt mir … aber wir werden sehen.
    Mahtab fragt sich oft, was James noch alles für sie tun wird. Sie bittet ihn um Kleinigkeiten, Gefälligkeiten, die sie eigentlich nicht braucht. Er bringt ihr Eis mit, wenn er sie in ihrem Zimmer besucht. Er repariert ihren abgebrochenen Absatz mit Sekundenkleber. Jedes Mal wird dieses Gefühl der

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