Ein Teelöffel Land und Meer

Flugzeug. »
Hmmm
 …«
    Jetzt kommt Mahtab sich dumm vor. Sie spielt mit dem langweiligen, schmucklosen Verschluss ihrer Ledertasche. James lächelt beruhigend. Aber das ist nicht die Art von Beruhigung, die sie jetzt braucht.
    »James, kannst du mir eine Tasse Tee holen?«, fragt sie, bemüht, etwas Kontrolle zurückzuerlangen.
    James, der in einem von Mahtabs Büchern geblättert hat, blickt auf.
    Mahtab merkt nicht, wie alle Farbe aus seinem Gesicht weicht. Sieht nicht, dass er zuerst zu seiner Mutter hinüberschielt, die eine Augenbraue hochzieht und anfängt, einen Fingernagel zu inspizieren, dann zu der langen Warteschlange in dem kleinen Coffeeshop, dann auf die volle Tasse Tee vor Mahtab. Er steht von seinem Stuhl auf und wirft seiner Mutter einen verlegenen Blick zu.
    »James?«, sagt Mahtab zerstreut. Als er sich zu ihr umdreht, fügt sie hinzu: »Und zwei Stück Zucker bitte.« Er stellt sich wortlos in die Warteschlange.
    Bestimmt ist dir noch nicht klar, was Mahtab falsch gemacht hat, Khanom Mansuri, weil dein eigener Mann ja dafür lebt, dir zu dienen. Auch Reza ist ein Mann, der schrecklich gern den Retter spielt und alles tut, was wir von ihm verlangen. Ich frage mich, wie Abbas in dieser Hinsicht sein wird. Wird er zuvorkommend sein oder grob? Mahtabs Harvard-Athlet ist keins von beidem. Er lebt nicht, um zu dienen. Er ist nicht mit dieser Mischung aus romantischer Folklore und Tragödie aufgewachsen.
    Das wird Mahtab Probleme bereiten. Und wir müssen einräumen, dass es in jedem Leben – selbst in den schönsten Illustriertenleben – Hindernisse und Schwierigkeiten gibt. Sogar Schahzadeh Nixon hat Probleme, falls man den Medien glauben darf. Was für große Skandale ein Mädchen mit tausend Kleidern durchmachen kann! Nun, Mahtabs allererster Freund entdeckt gerade, dass persische Frauen im Vergleich zu den übrigen nicht leicht zu handhaben sind. Ich hab das wieder und wieder von Touristen gehört, die das Haus meines Vaters besuchen, und es ist der Grund, aus dem unsere Männer eine neue Welt geschaffen haben, die uns ihnen untertan macht. Aber in Amerika kann eine iranische Frau schimpfen und toben und Forderungen stellen. Sie kann selbstsüchtige Entscheidungen treffen. Sie kann jedes verhasste Kleidungsstück in den Wind schleudern und Männer wegwerfen wie Reklamezettel auf der Straße. Sie kann die wilde Kreatur in sich für einen Tag herauslassen, und es wird ihr verziehen.
    Hast du dir das je gewünscht, Khanom Mansuri? Dich vor den Augen der Welt dem Wahnsinn hinzugeben und dass alle es wieder vergessen? Ich hab mal ein Buch namens
Die Glasglocke
gelesen, in dem eine junge Frau die unsäglichsten Dinge tut, mit einem Mann spielt, der sie liebt, mit einem Fremden schläft, der sie leiden lässt, sich an keinerlei Regeln hält und dann weitermacht, als wäre nichts gewesen. Sie darf sogar weiter studieren! Wie sehr das meinen ganzen Körper mit dem Verlangen erfüllt, wegzulaufen – weit weg oder hinauf in die Berge oder ins Meer.
    Ach, aber Mahtab so frei zu sehen! Ein Teil von mir möchte nur zum Spaß miterleben, wie dieser amerikanische Bilderbuchjunge die Fassung verliert. Lach nicht, Khanom Mansuri. Du weißt genau, was ich meine.
    Am nächsten Tag hört Mahtab nichts von James. Sie ist unbesorgt. Sie ist keins von den Mädchen, die kostbare Zeit damit vertun, sich über Männer aufzuregen. Insgeheim überlegt sie, ob es klüger gewesen wäre, seine Mutter nicht zu verbessern. Vielleicht wäre es anständiger gewesen, sich vorher zu informieren. Samstagabend beschließt sie, allein einen Spaziergang zu machen – die ganze Nacht, wenn ihr danach ist, weil es ja keine Ausgangssperre gibt. Kurz vor zehn Uhr betritt sie eine Bar in der Nähe ihres Wohnheims. Es ist völlig normal, dass eine junge Frau an einem Samstagabend allein in eine Bar geht.
    Innerhalb von drei Stunden kostet sie die folgenden Drinks, die du in Babas Vorratskammer nicht finden wirst und die sie aus Filmen kennt: ein holländisches Bier, einen Whiskey Sour, einen Old Fashioned, einen Sidecar und einen Martini. Natürlich trinkt sie die nicht aus. Sie hat sich völlig unter Kontrolle – aber wenn sie wollte, könnte Mahtab sich betrinken und auf der Straße erbrechen und dafür würde sie lediglich einen Tadel bekommen und am nächsten Tag einen dicken Schädel haben. Der Barkeeper sagt nicht Nein. Weißt du, westliche Barkeeper sind freizügige ehemalige Medizinstudenten mit gegeltem Haar, die sich auf das