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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Wort für Wort richtig. Und dann kommen diese stolzen Akademiker nach Amerika und fahren Taxi. Es ist nicht ihre Schuld. Denn in welchem anderen amerikanischen Job gibt es für iranische Lyrik eine bessere Verwendung als in einem stickigen Taxi, wo sie sich mit ihrem fiebrigen Singsang und all ihrer Melancholie Stunde für Stunde, Tag für Tag fremden Leuten aufzwingen lässt.
    Wie sich herausstellt, bekommt Mahtab keine Gelegenheit, ihr Volk zu verteidigen, keinen zufriedenstellenden und dramatischen Sieg, den sie sich als Verdienst anrechnen kann. James’ Mutter scheint sich ebenso wie ihr Sohn für das Exotische zu begeistern.
    »Ich bin ganz vernarrt in die Teppiche, meine Liebe«, sagt sie und berührt Mahtabs Arm. Sie ist kleiner, als Mahtab erwartet hat, aber dünn, mit einer Diane-Sawyer-Frisur und einer dreireihigen Perlenkette. »Wir haben vier bei uns im Haus. Die aus Nain sind die besten. Waren Sie je in Nain?«
    Mahtab schüttelt den Kopf, überlegt es sich dann anders und nickt. Sie will etwas über ausgebeutete Kinderarbeiter sagen, weiß aber nicht genau, ob es die im Iran gibt. Diese Frau ist ganz anders als die Mütter, die sie kennt – nicht wie die kalifornischen Lehrerinnen und auch nicht wie die Khanom Basirs und Hafezis dieser Welt. James’ Mutter ist nett und freundlich und verbirgt wahrscheinlich irgendwas. Vielleicht schlägt sie irgendwann ganz überraschend zu. Mahtab wappnet sich in Erinnerung an die unersättliche Verschlagenheit persischer Frauen, die vier Unterhaltungen gleichzeitig führen können, den Gesprächsfluss in Gang halten, während sie mit knoblauchbeschmierten Fäusten in deine arglose Seele greifen und die schleimigen verborgenen Teile deiner sorgsam konstruierten Geschichten herausreißen. Für später. Sie stopfen sie sich in ihre Schürzentaschen. Sie trocknen sich die Hände und stellen noch mehr Fragen.
    Einmal hat sie José aus dem Diner, in dem sie früher gearbeitet hat, die Frauen von Cheshmeh beschrieben, aber er hat nur genickt und gesagt: »So sind
alle
Frauen,
mija
.« Er hatte ja keine Ahnung.
    »Dieser Diner-Mann klingt sehr weise«, sagt Khanom Mansuri und brabbelt dann erinnerungsselig vor sich hin: »Der Diner-Mann aus Südmexiko … hmmm, ja, erzähl weiter.«
    Jedenfalls nimmt Mahtab es den Frauen nicht übel. Das Meer lässt sie so werden, die Arglist des Kaspischen Meeres. Mahtab hasst das Meer. Sie hasst Schwimmen, und der Geruch von Algen und Fisch ist ihr zuwider. Die Frauen daheim waten durch dieses böse Wasser und nehmen es in sich auf. Es schwebt durch die Luft wie ein tückischer milchiger Nebel. Sie trinken es, atmen es und kochen ihr Essen darin. Aber Mahtab hat keine Angst. Sie denkt jetzt, dass sie viele unmögliche Dinge tun könnte, wenn sie all das Böse, das sie von ihren Vorfahrinnen geerbt hat, geschickt einsetzt: schelmische Dschinn durcheinanderbringen, schlafende Geister wecken, Scharen widerwilliger Männer lenken. Sie will Macht über einen Jungen wie James – und über seine verwöhnte Perlenketten-Mutter.
    James’ Mutter spricht weiter. »Alles an Persien begeistert mich. Sagen Sie eigentlich lieber Persien oder Iran?« Mahtab zuckt die Achseln. »Bestimmt haben Sie Ferdowsi und Rumi und Hafez gelesen. Ich hab sie alle im College gelesen.« Sie nennt ein zweitklassiges Institut. »Ich hab Ihnen die
Rubaiyat
mitgebracht.« Sie reicht ihr die berühmte FitzGerald-Übersetzung, von der Mahtab weiß, dass es die beste ist.
    Mahtab ist ein wenig enttäuscht. Sie freut sich immer über eine echte Herausforderung. Sie hatte auf ein kleines bisschen Rassismus gehofft. Nur einen Hauch von Klassenarroganz. Sie fühlt sich betrogen. James’ Mutter, Mrs Scarret, fährt fort: »Ich hab eine Perserkatze, wissen Sie.«
    Okay, jetzt reicht’s. Noch so eine aufgeblasene Expertin mit ein paar wahllos zusammengewürfelten Fakten. Die Perserkatzen-, Perserteppich-Sorte ist die schlimmste. »Genau genommen kommen Perserkatzen nicht aus dem Iran«, sagt sie. Zumindest hat sie dort nie eine gesehen.
    James’ Mutter legt den Zeigefinger ans Kinn. »Oh doch, meine Liebe. Ursprünglich stammen sie von irgendeiner Hochebene … irgendwo im Hindukusch, der eigentlich zu Afghanistan gehört, aber wir wissen natürlich, dass das alles irgendwann mal ein Teil von Persien war, stimmt’s, meine Liebe?« Sie beendet ihre Sätze mit langen Seufzern, die mit einem hellen Luftausstoß beginnen und zu einem leisen Summen abklingen, wie ein startendes

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