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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Selbstsicherheit größer und unverzichtbarer. Manchmal denkt sie, dass es ein bisschen so ist wie der Tag, als sie von Harvard angenommen wurde. Es gibt ihr das Gefühl, etwas erreicht zu haben.
Harvard würde nicht jede x-Beliebige nehmen. James würde nicht für jede x-Beliebige die Sachen aus der Reinigung holen.
Bis jetzt hat Mahtab sich in Harvard fehl am Platz gefühlt, als ob jemand in der Zulassungsstelle ein Fenster offen gelassen und ein glücklicher Wind ihre Bewerbung aus dem Mülleimer geholt und auf den »Ja«-Stapel geweht hätte. Doch James’ Gesten vertreiben diese Gedanken noch besser als sämtliche guten Noten von Baba Harvard. Seht nur, welche Macht ich über diesen Mann habe, der alles andere als durchschnittlich ist – der vielleicht sogar eines Tages die Welt regiert? Seht nur, welche Macht ich in meinem kleinen Körper berge, in meinem Blut und somit im Blut meiner Schwester? Denn das Schicksal und jede Art von persönlichem Triumph oder Talent hängen nicht vom Aufenthaltsort ab, sondern werden vom Blut bestimmt.
    Beim Kaffee hält James ihre Hand und erzählt ihr, dass seine Mutter zu Besuch gekommen ist. Er lädt Mahtab ein, sie kennenzulernen. Doch James weiß nichts über iranische Gepflogenheiten. Er beleidigt sie, indem er ihr ein Geschenk macht – eine lederne Handtasche, die sie zu dem Treffen tragen soll und die exakt so aussieht wie eine, die Mahtab bereits besitzt. Zuerst ist sie verwundert. »Die sieht genauso aus wie meine.«
    »Sie ist aber nicht genau wie deine. Die hier ist aus Leder.«
    »Meine ist auch aus Leder.«
    James lächelt ein Du-bist-so-süß-Lächeln. »Deine ist nicht aus Leder.«
    Khanom Mansuri nickt. »Ja. Man sagt, dass die Amerikaner sich gegenseitig nach so was beurteilen.«
    Mahtab verzieht ärgerlich das Gesicht. »Doch, ist sie wohl. Der Mann auf dem Flohmarkt hat –«
    »Würdest du sie bitte für mich tragen?«, fragt er, und Mahtab denkt, dass das etwas sein muss, das seiner Mutter imponiert.
    »Meinetwegen.« Sie lächelt. »Aber deine hat keinen Verschluss in Schuhform.«
    »Noch dazu aus purem Gold, was?« Er zwinkert. Er ist nicht lustig.
    »Genau«, sagt Mahtab, ohne recht zu wissen, ob sie sich selbst verspottet oder James. Im Moment kümmert sie das nicht. Sie ist gerade erst dabei, ihre eigene Macht zu entdecken. Und wie du ja weißt, Khanom Mansuri, ist der Ausgang einer Folge erst dann sicher, wenn 22,5 Minuten vergangen sind.
    Und es gibt noch etwas, was du weißt: Mahtab hat die Neigung, zu viel über Dinge nachzugrübeln und sich in alle möglichen ausgedachten Situationen hineinzuversetzen. Jetzt verbringt sie die ganze Woche damit, sich auszumalen, wie James’ Mutter sein wird. Sie stellt sich vor – hofft sogar –, dass sie eine stereotype Society-Lady ist, eine unterernährte, griesgrämige, rassistische Frau, die freundlich tun und ihr gleichzeitig raten wird, die Finger von ihrem Sohn zu lassen. Sie hofft darauf, etwas Ähnliches zu erleben wie die Picknickszene zwischen Rose und der ach so weißen Mutter ihres Freundes in
The Joy Luck Club
; das ist ein Buch, von dem ich dir später erzählen werde, versprochen. Sie stellt sich vor, wie sie ihrer neuen Erzfeindin entgegentritt, die Schultern zurücknimmt und sie überragt und ihr dann sagt, dass sie nicht ein Land voller
pasdars
und
akhounds
und Mullahs verlassen hat, nur um sich vor einer Prinzessin mittleren Alters zu verneigen. Sie kichert, als sie sich triumphierend davonrauschen sieht, mit James als Siegesbeute.
    Trotz ihres Übermuts probt Mahtab, was sie sagen wird. Sie schämt sich für ihr Leben vor Harvard – zumindest für den amerikanischen Teil, zu dem die Fabrikarbeit ihrer Mutter und ihr bescheidenes Haus gehören. Sie beschließt, diesen Abschnitt wegzulassen. Im Iran ist ihre Familie gebildet. Im Iran sind die Hafezis reich und geachtet. Zu erklären, dass Ärzte und Ingenieure und Wissenschaftler mit iranischer Ausbildung in Amerika nur selten einen vergleichbaren Status erreichen, wird zu lange dauern. Es wird zu frustrierend werden, dieser Frau begrei f lich zu machen, dass sie dort nicht Französisch, Spanisch und Wirtschaftswissenschaften lernen, sondern ihre Geisteskraft demonstrieren, indem sie Ferdowsi, Khayyam und Hafez zitieren. Sie verschlingen zahllose Bände voller unglaublich komplexer Lyrik. Sie lernen sie so gründlich auswendig, dass sie wie von selbst aus ihnen herausdrängt, wenn sie betrunken sind, nuschelig und zusammenhanglos, aber

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