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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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müden Augen mit den Daumen und wartet, dass er weiterspricht. Er druckst ein Weilchen herum, und Mahtab ist sich plötzlich sicher, dass dieses Gespräch sie nicht mehr interessiert. Sie macht Anstalten zu gehen. »Denk, was du willst. Mir reicht’s«, sagt sie. »Ich muss eine Hausarbeit schreiben.« Ach, wie viele Hausarbeiten hat sie inzwischen geschrieben und ein ganzes Universum von wunderbaren Themen behandelt!
    Doch James fasst ihre Hand. »Vielleicht können wir noch mal von vorne anfangen«, schlägt er vor. Er rudert zurück, hat Angst, sie zu verlieren, und fängt auf einmal an, von ihrer Schönheit zu schwärmen und von allem, was er an ihr bewundert. Sie fühlt sich an einen iranischen
khastegari
erinnert, bei dem der Mann, ob er es ernst meint oder nicht, endlos die erlesenen Tugenden der Mädchen besingt, sogar mit Selbstmord droht. Jetzt fühlt sie sich nach Cheshmeh zurückversetzt, wo Dutzende Augen sie gespannt beobachten, von ihr erwarten, dass sie den Antrag eines scheinbar perfekten Mannes annimmt. Oh, und sie
muss
annehmen. Sie
wird
annehmen. Genau das ist für sie geplant und vorgesehen. Sie versucht, das Bild abzuschütteln, aber es gelingt ihr nicht, schon gar nicht nach einem holländischen Bier, einem Whiskey Sour, einem Old Fashioned, einem Sidecar und einem Martini.
    Just in diesem Moment beugt sich Simone über den Tisch und hakt sich bei James ein. Sie flüstert: »Ich hab Hunger. Lass uns was zu essen bestellen.«
    Mahtabs Wangen brennen. Sie will aufstehen, doch ehe sie dazu kommt, hat James seinen Arm aus Simones gelöst und gibt ihrer Schulter einen Schubs. Es ist kein richtiger Stoß. Er ist bloß betrunken und will, dass sie die Hände von ihm lässt. Aber Mahtab sieht etwas anderes. Verstehst du, Khanom Mansuri, eine amerikanische Frau hat das Vorrecht, wahrzunehmen, was sie will, selbst wenn es nicht der Realität entspricht. Sie kann ihre eigene Version haben, und die zählt nicht bloß als halbe Zeugenaussage, wie das hier der Fall wäre. In Amerika ist es oftmals die weibliche Version der Ereignisse, die sich durchsetzt. Die zählt genauso viel, wie die Frau will. Und in diesem Augenblick beschließt Mahtab, Folgendes zu sehen: Weiße Babyflaumarme stoßen eine Frau über einen Tisch. Fest. Simone reibt sich den Arm und rutscht nach hinten. Schlägt sie mit dem Kopf gegen die Wand? Mahtab redet sich ein, dass dem so ist. James’ glasiger Blick huscht zwischen Mahtab und Simone hin und her. Ohne zu merken, was er getan hat, murmelt er: »Ich hab doch gesagt, du sollst dich da raushalten.«
    Mahtab steht auf. »Ich geh nach Hause.« Sie erhebt nicht die Stimme. Das ist nicht nötig.
    »Warum denn?«, jammert James mit großen Augen. »Bleib doch noch. Ist doch alles nicht so schlimm.«
    Doch Mahtab nimmt bereits etwas anderes wahr. Der weiße Nylonmantel gleitet von Simones Schultern und schwebt zu James hinüber, der auf der bequemen Polsterbank sitzt. Er bedeckt seine zitternden Schultern in einer anerkennenden Umarmung. Jetzt trägt er einen Kaftan. Jetzt ist er ein Geistlicher. Jetzt reckt er den Kopf, und alles, was er getan hat, ist in Ordnung. Vielleicht denkt er das nicht, aber so ist es nun mal. Mahtab hat es gesehen. Der Umhang hat ihn bedeckt, und er ist verloren, eins geworden mit all den hassenswerten Männern, die Mahtab je gekannt oder sich vorgestellt hat – wie die
pasdars
und die Geistlichen oder Mustafa, der den Schlagstock über Ponneh erhoben hat, oder Reza, der sich nicht gegen seine Mutter durchsetzen kann. James kann diesen Umhang niemals abwerfen oder sie von seinen eigenen Ängsten überzeugen, denn Mahtab verzeiht auch keine Kleinigkeiten – nicht, wenn es um Männer und ihre unverdiente Macht geht.
Er ist schwach, schwach, schwach.
Mit diesen Gedanken ist sie mir sehr ähnlich. Harmlos? Nein. Unbeabsichtigt? Niemals.
Es gibt keine Kleinigkeiten.
    »Du bist zu hart, Saba-dschan … mit Reza und deinem Vater und jedem. Verzeih, liebes Kind. Reza ist dein Freund. Dein Baba ist dein Baba. Schwäche ist keine Sünde.«
    Ja, aber Mahtab, der vom Glück gesegnete Zwilling, muss nicht verzeihen oder sich abfinden. Das ist das Entscheidende. Sie hat die Macht, abzulehnen, Vergebung zu verweigern. Sie hat Möglichkeiten, für die ich – während ich dasaß und einem Bewerber um meine Hand zuhörte – ein Vermögen gegeben hätte.
    »Ich will dich nicht«, sagt sie zu ihrem blonden Prinzen und seinen weißen Babyflaumarmen. »In Harvard gibt es

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