Ein Teelöffel Land und Meer

Tausende von Männern.« James ist schwach, ängstlich, wird von seiner ach so einschüchternden Mutter beherrscht. Sie schneidet ihn sich aus dem Herzen, so wie auch ich das schon einmal getan habe.
    Als sie weggeht, ruft Simone ihr nach: »Ich hab gehört, du wolltest mit einer Plastikhandtasche zu dem Treffen mit seiner Mutter erscheinen.« Dann grinst sie so, wie man einen Dorftrottel angrinsen würde.
    Mahtab zuckt zusammen. Sie geht zu dem Barkeeper mit den gegelten Haaren und bittet ihn um eine Einkaufstüte. Während sie den Inhalt ihrer Ledertasche in die Tüte leert, überkommt sie ein Gefühl von Edelmut, von Opferung. Sie findet diese Handlung nicht trivial, wie andere Mädchen das vielleicht tun würden. Nein, sie ist regelrecht stolz auf sie. Im Verlauf der nachfolgenden Tage werden die Ereignisse des Abends in ihren Augen immer größer und größer werden, bis sie sich selbst durch sie definiert hat. Auch wenn sie später im Leben vielleicht erkennt, dass James nur ein verwirrter, unerfahrener und etwas charakterloser Junge ist, entscheidet sie sich dafür, den Abend als Rechtfertigung für ihr Verhalten zu sehen. Höchstwahrscheinlich wird sie James nie verzeihen, dass er ahnungslos in den Grenzbereich ihrer Ängste gestolpert ist. Woher ich das weiß? Weil ich meine Schwester besser kenne als jeder andere. Mahtab bindet die Plastiktüte mit einem Ruck zu, kehrt zum Tisch zurück und wirft Simone die Ledertasche in den Schoß. Es ist ein großartiger Auftritt, ein filmreifer Schlag ins Gesicht.
    Zurück in ihrem Zimmer, ruft sie Maman an. Sie kuschelt sich in ein Wohnheimkissen und erzählt Maman all ihre Sorgen. Im Gegenzug verrät Maman ihr ein Geheimnis – die Wahrheit über ihre Zeit im Evin-Gefängnis, die ich noch immer nicht kenne. Kennst
du
sie, Khanom Mansuri? Nein? Ich schwöre, eines Tages werde ich alles darüber herausfinden.
    Ehe sie au f legt, informiert Maman sie über meine bevorstehende Heirat mit Abbas und die Tatsache, dass ich nun für immer mit jemand anderem als meiner Zwillingsschwester verbunden sein werde. Ich wünschte sehr, ich könnte ihr Gesicht sehen, wenn sie das erfährt. Obwohl ich ihr ganzes Mienenspiel kenne, kann ich ihr Gesicht in diesem Moment absolut nicht lesen. In all den Jahren hat sich das keine von uns je ernsthaft vorgestellt – den Moment, in dem klar wird, dass die andere verloren ist.
    Bist du erstaunt, meine Freundin? Ja, Mahtab denkt an mich, obwohl sie mit ihrem Studentenleben beschäftigt ist. Wir sind Schwestern. Wir sind ein Blut. Und natürlich wird Baba ihr von meiner Heirat berichtet haben. Irgendwo weit im Westen müssen Mahtab und Maman wissen, dass ich verheiratet bin.
    Khanom Mansuri, glaubst du, dass sie aus Evin rausgekommen ist? Man sagt, dass hinter diesen Mauern jedes Jahr Hunderte gefoltert und hingerichtet werden. Aber es kommen auch viele raus, für alle Zeit verändert, für alle Zeit voller Angst. Das sind diejenigen, die nach Amerika abhauen, die den Iran aus ihrem Herzen schneiden. Falls Maman aus Evin rausgekommen ist, ist sie ganz bestimmt geflohen. Ich wünschte, jemand würde mir die Wahrheit sagen. Offensichtlich hat Baba mehr gewusst, als er mir erzählt hat. Vielleicht gibt es noch mehr, das er verschweigt. In letzter Zeit stelle ich fest, dass mein Mund versiegelt ist, wenn der
pasdar
in meinen Träumen mir das Messer an den Hals hält und droht, mich zu töten, wenn ich ihm nicht verrate, wo Mahtab ist, dass er mir die Kehle durchschneiden wird und ich nichts dagegen machen kann, weil ich keine Antwort habe.
    »Weine nicht, liebes Kind. Soll ich dir ein Lied vorsingen?«
    Nein, nein, Verzeihung. Konzentrieren wir uns auf den glücklichen Teil. So überwindet Mahtab eine weitere Einwanderersorge. Die Nachricht von meiner Heirat hat ihr nämlich etwas Wichtiges bewusst gemacht: Mag ja sein, dass sie aus einem iranischen Dorf stammt und James ein Gold-und-Platin-Junge aus dem Nordosten ist, aber heute hat
sie
die Macht besessen. In ihrem kleinen Körper muss es etwas geben, das der Welt befehlen kann, sich zu drehen. Ihre Geschichte um einen kaputten Absatz hat nicht dazu geführt, dass sie geschlagen wurde wie unsere Ponneh, sondern sie hat sie an den Punkt gebracht, wo sie
ihren
Fuß fest in irgendeinen Männerrücken drückt. Nachdem sie den unerreichbaren James Scarret zufällig aus der Fassung gebracht hat, wird Mahtab sich nie wieder darum sorgen, ob sie die Kraft oder die Macht hat, etwas zu erreichen. Ich bin