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Ein Toter hat kein Konto

Ein Toter hat kein Konto

Titel: Ein Toter hat kein Konto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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dreht sich um mich herum. Ich fühle mich wie ein Handschuh, der auf links
gezogen wird.
    Schreie hallen wider, sehr weit weg, hinten am
Ende eines langen, schwankenden Korridors. Und dann plötzlich, ganz nah,
quietscht eine Tür in den Angeln. Ich höre Andréjol brüllen: „Schweine!“ Er
beißt in etwas hinein, fuchtelt mit den Armen in der Luft herum und schleudert
eine seiner Hände von sich. Sie fliegt durch die Luft und explodiert mitten in
der Gruppe der arabischen Wüstensöhne, die uns belagern. Eine riesige, tosende
Welle spült mich fort. Ich flüchte durch einen Korridor, die Angst im Nacken.
Ich spüre die duftende Frische der ländlichen Nacht. In dem Haus, aus dem ich
fliehen will, grollt der Donner. Andréjol stößt mich vorwärts, ich stolpere in
die Nacht hinaus. Ich sehe, wie der Flic den Stift einer zweiten Granate
abzieht. Gleichzeitig fällt ihn ein Araber an, ein Rasiermesser in der Hand.
Die Granate explodiert zwischen den beiden, versöhnt sie wieder miteinander,
die Decke stürzt ein, entreißt den Alptraum meinem Blick, und ich laufe — ja,
ich glaube, jetzt laufe ich — in einen Garten hinaus. Plötzlich lasse ich mich
fallen. Ich versuche, mich an irgend etwas zu klammern, es festzuhalten, aber
anstatt zu ziehen, stoße ich es von mir. Bevor ich wie ein Baumstamm einen
Hügel hinunterrolle, höre ich ein dumpfes Plumpsen, wie wenn das Wasser eines
Brunnens über einem Körper zusammenschlägt. Sieben oder acht Jahre bleibe ich
dort liegen, abgestumpft, völlig erledigt... dann wird wieder die Schlange in
mir wach, und ich schlängle mich geräuschlos von dannen. So lege ich unzählige
Kilometer zurück. Ich weiß nicht mehr, ob ich lebe oder tot bin. Es ist Nacht.
Ich erreiche eine... eine Straße, ja, ich glaube, so nennt man das. Wenn Autos
kommen, werde ich... Wieder bebt und dreht sich die Erde. Das ist das Ende,
Nestor Burma! Nestor Burma! Aber das sind ja nicht wir. Nestor Burma, der
dynamische Detektiv! Im Plural. Ich lache. Die Erde dreht sich etwas langsamer.
Ich sehe nach unten auf meine Füße. Ja, ich habe das Gefühl, mit beiden Beinen
auf dem Boden zu stehen. Tatsächlich, ich stehe! Aber nicht lange. Das Gewicht
meines Kopfes zieht mich nach unten, und wieder beiße ich in den Kies der
Straße. Ich denke an die alten Leute aus meiner Heimatprovinz und an ihre
Meinung über die Behandlung von Verrückten: Nach Paris sollte man sie schicken,
die Irren! Wenn sie da nicht freiwillig ins Gras beißen, erstickt man sie
zwischen zwei Matratzen. Ich beiße freiwillig in den Kies. Dann verlange ich
die Rechnung. Man sagt mir, Dumonteil bezahle alles. Mühsam komme ich wieder
auf die Beine. Um jeden neuerlichen Schwindelanfall zu vermeiden, sehe ich
hinauf zum Himmel, wie ein Hund, der den Mond anheult. Der Mond wird von
Gewitterwolken verdeckt, so wie es in Esau, der Aussätzige steht, einem
Hintertreppenroman, den ich als Halbwüchsiger verschlungen habe. Ich verlasse
meine literarischen Jugenderinnerungen und schenke meine Aufmerksamkeit einem
Auto, das vor einen Baum gefahren ist. Das Auto kenne ich. Wenn ich das Auto
kenne, muß ich auch seinen Besitzer kennen. Wenn sein Besitzer drinsitzt, wird
er mich einsteigen lassen. Ich kenne den Besitzer, und er sitzt am Steuer. Der
Kerl heißt Pe... Pe... Ich habe Kopfschmerzen. Zuviele Gedanken schwirren in
ihm herum. Petit! Dr. Petiot, der ungelöschte Kalk. Nein, er heißt Péricat. Dr.
Péricat. Wie geht es Ihnen, Doktor? Zum Totlachen, einen Arzt nach seiner
Gesundheit zu fragen! Natürlich, er weiß es ja besser als wir. Zu solch blöden
Scherzen sagst du nichts, Péricat. Ich öffne die Wagentür. Ich kitzle den Arzt
am Kinn. Killekille, lach doch den Onkel mal an! Von wegen! Lieber will er mir
einen Tritt versetzen. Beinahe landet sein Fuß mitten in meinem Bauch. Aber er
ist ja mausetot, der Dr. Péricat! Jetzt kapiere ich: Das ist das Ende der Welt,
das Jahr Eintausend. Ich bin das einzige menschliche Wesen, das eine längst
vergessene Naturkatastrophe überlebt hat. Wozu in Zukunft noch auf ein Auto, den
Bus oder die Metro warten? Ich alleine. Setzen wir also unseren Fußmarsch fort.
Die Welt gehört mir. Alles gehört mir. Wälder, Täler, Hügel, Berge, alles mir.
Auch die Häuser, an denen ich vorbeigehe, gehören mir so sehr, daß mir ihr
Anblick vertraut vorkommt. Von jeher stand es geschrieben — Inschallah! — , daß
sie mir gehören würden. Auch diese Mauer. Auch diese kleine, fast unsichtbare
Tür, diese

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