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Ein Toter hat kein Konto

Ein Toter hat kein Konto

Titel: Ein Toter hat kein Konto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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noch
etwas lauter.
    „Guten Morgen, Schneewittchen“, sagte ich mit
unsicherer, krächzender Stimme, die mich selbst überraschte.
    Joëlle Flauvigny stand auf und legte einen
Finger auf ihren Mund.
    „Sprechen Sie bitte nicht... chéri“, flüsterte sie. „Man könnte Sie hören. Es weiß niemand, daß Sie hier sind...
    chéri.“
    Ich sah sie mit offenem Mund an. Sie lächelte
ein so offenes Lächeln, wie es die vertragsschließenden Parteien eines
Nichtangriffspaktes bei der Unterzeichnung an den Tag legen. Ihrer Kleidung
nach zu urteilen, wollte sie ausgehen. Sie trug das Kostüm, das ich tags zuvor
an ihr gesehen hatte. Tags zuvor? Großer Gott! Tags zuvor... vorgestern... vor
sechs Monaten... vor einem Jahr... Alles ging ineinander über. Und diese
verdammten Zwerge, die die Gewerkschaftsvereinbarungen ignorierten und wie
wahnsinnig weiterarbeiteten! Dadurch wurde alles nur noch schlimmer.
    Joëlle reichte mir eine Tasse schwarzen Kaffee.
    „Trinken Sie“, sagte sie leise. „Der Kaffee ist
vielleicht nicht mehr ganz heiß. Schließlich mußte er lange auf Sie warten! Ich
konnte dem Dienstmädchen nicht sagen, daß ich einen Gast habe und später läuten
würde.“
    Ich nahm die Tasse.
    „ Chéri “, ergänzte ich.
    „Was?“
    „Sie könnten ruhig wieder ein paar , Chéris ’
in Ihre Sätze einfließen lassen. Haben Sie vergessen. Ich habe Ihr Versäumnis
nur ausgebügelt... chérie .“
    „Trinken... Sie.“
    Zwischen „Trinken“ und „Sie“ gähnte das Mädchen.
Ich gähnte ebenfalls. Sie hatte Ringe unter den Augen. Wie meine aussahen,
wollte ich gar nicht wissen. Ein hübsches Paar saß sich da gegenüber!
    „Schwören Sie, daß der Kaffee nicht vergiftet
ist?“
    Sie nahm mir die Tasse aus der Hand, trank einen
Schluck und gab sie mir wieder zurück.
    „Jetzt werden Sie meine Gedanken lesen können“,
sagte sie verkrampft lächelnd.
    „Nicht nötig“, wehrte ich ab.
    Sie sah mich ängstlich an. Ich trank die Brühe,
behielt sie aber eine Weile im Mund, bevor ich sie hinunterschluckte. Nicht
sehr elegant, aber es tat gut. Der Kaffee war stark, genauso, wie ich ihn
liebe. Ein Pfeifchen dazu, und ich hätte mich sauwohl gefühlt. Die sieben
lieben Zwerge verringerten die Schlagzahl. Bummelstreik in der Schmiede. Mit
ziehendem Schmerz in den Muskeln stand ich auf, suchte mein Jackett und
erblickte es in einer Ecke, obwohl ich Mühe hatte, es wiederzuerkennen, so
versaut war es. Ich durchwühlte die Taschen, fand aber nichts. Nicht nur Tabak
und Pfeife fehlten, sondern es herrschte absolute Leere, abgesehen von meinem
Schlüsselbund. Ich setzte mich wieder aufs Bett.
    „Hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich?“
fragte ich. „Verrückt bin ich danach zwar nicht, aber es ist besser als
nichts.“
    Sie reichte mir ein Päckchen Zigaretten mit
hellem Tabak. Ich nahm die letzte Zigarette, die noch drin war, zündete sie an,
knüllte das Päckchen zusammen und legte es in einen Aschenbecher, der von
Kippen überlief. Fast alle waren rot gefärbt.
    „Glauben Sie einem verstockten
Tabakspezialisten“, sagte ich. „Wenn Sie so weiterrauchen, ruinieren Sie Ihre
Gesundheit.“
    Statt einer Antwort gähnte sie. Dann setzte sie
sich wieder auf ihren Stuhl, wobei sie ihre Beine in intimer Ungezwungenheit
voll zur Geltung brachte. Vergebliche Liebesmüh. Ihre Beine waren einen Blick
wert, aber im Augenblick hätte ich ihnen eine heißkalte Dusche, eine gute
Massage sowie eine zweite Tasse Kaffee vorgezogen. Ich sah durchs Fenster. Hinter
der Scheibe erhoben sich die Bäume eines Parks.
    „Bin ich bei Ihnen zu Flause?“ erkundigte ich
mich. „In La Feuilleraie ?“
    „Was haben Sie denn gedacht?“
    „Nichts. Aber ich sollte überall sein, nur nicht
hier. Wie ist das möglich?“
    „Heute nacht habe ich Sie in unserem Park
überrascht. Sie versuchten, ins Haus einzudringen.“
    „Im Ernst? Arsène Lupin läßt grüßen, was? Und
mit welcher Absicht... Ihrer Meinung nach?“
    Sie errötete, gab aber keine Antwort. Sie stand
auf, kam zu mir und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Das war die Antwort! Es
gibt weniger beredte Erklärungen. Leider brummte mein Schädel zu laut, als daß
ich die Geste zu schätzen gewußt hätte. Stattdessen gab ich ihr ihre Hand
zurück.
    „Wann war das?“ fragte ich.
    Automatisch sah ich auf meine Armbanduhr. Besser
gesagt, auf die Stelle, an der sie sich normalerweise befand.
    „Weiß ich nicht“, antwortete Joëlle. „Ich habe
Geräusche gehört,

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