Ein toter Lehrer / Roman
schwitzen und machte sie noch gereizter.
Und die Wolken blieben.
Sie versuchte, nicht an Szajkowski zu denken. Sie versuchte, nicht an die Schule und an Travis zu denken. Sie räumte ihren Schreibtisch auf, heftete ihre Akten ab. Dann leerte sie ihren Posteingang und löschte Dokumente vom Desktop. Aber sie sah Walter, hörte sein schallendes Lachen und roch sein kläglich versagendes Deo, und sein Anblick, seine Geräusche und sein Geruch genügten, um sie wieder daran zu erinnern. Sie schickte Cole eine E-Mail, um sicherzugehen, dass der Bericht – der verfälschte Bericht, das, was Walter daraus gemacht hatte – nicht unter ihrem Namen in die Akten kam. Von dem Augenblick an, wo ihr dieser Gedanke gekommen war, hatte sie sich zum Ziel gesetzt, das zu verhindern. Sie wusste, dass es unwichtig war, aber deshalb war sie nicht weniger entschlossen. Sie schob es auf den Kaffee und trank noch einen Schluck.
Cole antwortete nicht, und Lucia hatte das Warten bald satt. Zum ersten Mal, seit sie bei der Polizei angefangen hatte, bedauerte
sie, dass es keinen Papierkram zu erledigen gab. Sie sehnte sich nach anspruchslosen Aufgaben, aber sie hatte keine. Am Anfang,
als Cole sie mit dem Fall Szajkowski betraut hatte, hatte er sie von allen anderen Pflichten entbunden. Jetzt war ihr der
Fall wieder entrissen worden, und im Moment hatte Lucia nichts anderes.
Sie gab sich Mühe, beschäftigt auszusehen. Das war gar nicht so einfach, zumal sie Walter beobachtete und seine Gespräche verfolgte, sich gleichzeitig so setzte, dass sie vielleicht einen Blick auf Cole in seinem Büro erhaschen konnte, und immer mal wieder an seiner Tür vorbeiging und sich dort aufhielt, ohne dass es allzu offensichtlich sein sollte. Am liebsten wäre sie einfach hineinmarschiert. Am liebsten hätte sie gefragt, wie es mit dem Fall weiterging, was der Superintendent, der Polizeichef und der Innenminister gesagt hatten. Angesichts der Spielchen, die sie da spielte, wollte sie am liebsten die Uhr zurückdrehen – vierundzwanzig, nein, achtundvierzig Stunden –, den Bericht noch einmal neu und besser schreiben und ihn noch einmal präsentieren, geschickter präsentieren. Und später, damit der Zeitdruck Cole keine andere Wahl ließe, als ihn anzunehmen.
Sie zog noch einmal ihre Akten heraus und blätterte darin. Sie las in den Zeugenaussagen, und je mehr sie las, desto mehr fühlte sie sich bestätigt, im Recht und unfair behandelt. Sie nahm einen Textmarker aus ihrem Schubfach, einen gelben, und stibitzte von Harrys Schreibtisch einen grünen. Beim Lesen strich sie an: gelb für Anklage, grün für Verteidigung. Sie markierte gelb, gelb, dann eine Weile nichts, dann wieder gelb und noch mehr gelb. Sie trank Kaffee. Ab und zu zog sie mit den Zähnen die Kappe von dem grünen Marker und strich einen Satz oder einen ganzen Abschnitt an, nicht weil sie es wirklich nötig fand, sondern mehr, um sich selbst zu versichern, dass sie gerecht war.
In der Mittagspause kaufte sie sich ein Sandwich und aß es zur Hälfte. Sie trank Wasser, um den Kaffee aus ihrem Körper zu spülen, aber kaum dass sie wieder im Büro war, schenkte sie sich einen neuen Becher ein.
Der gelbe Textmarker wurde schwächer. Sie hatte Lust, ihn Cole vor die Nase zu halten und zu sagen: Hier, sehen Sie, begreifen Sie es doch endlich. Ich hatte recht und Sie unrecht. Aber der Stift gab einfach nicht auf. Sie beschwor ihn, unterstrich doppelt und dreifach und malte übertrieben große Sternchen an den Rand, aber er hatte immer noch etwas Farbe. Immer, wenn sie den grünen Marker benutzen musste, legte sie den gelben ohne Kappe ab. Sie wusste, dass sie gegen ihre eigenen Regeln verstieß, aber der Wettbewerb war ohnehin schon ein Fiasko.
Sie kam zum Ende einer Aussage und merkte, dass sie sie fast nur mit Grün markiert hatte. Sie las sie noch einmal, den gelben Marker gezückt, fand aber bloß einen weiteren Abschnitt, der wahrscheinlich auch grün hätte sein müssen. Dasselbe passierte mit der nächsten Aussage, und dann mit noch einer. Und obwohl der gelbe Marker offen auf dem Schreibtisch lag, versagte der grüne zuerst den Dienst. Lucia fluchte. Sie schob die Schuld auf Harry, weil er Billigware gekauft hatte, beschloss, dass der Textmarker sicher sowieso schon alt gewesen war, und erklärte ihr Spiel für ungültig. Sie bündelte die Aussagen zu einem unordentlichen Stapel und warf sie in eine Schublade. Dann hielt sie Ausschau nach Cole. Und nach Walter.
»Suchst
Weitere Kostenlose Bücher