Ein toter Lehrer / Roman
sie ihm gegenüber erst einmal unvoreingenommen waren, sage ich. Weil sie nicht wussten, was niemand hätte wissen können.
Denn das hätte ja schließlich niemand wissen können, oder? Niemand hätte voraussagen können, was passieren wird. Was er tun würde. Sie wissen das sicher besser als ich. Sie haben doch sicher Zugang zu seinen Akten, zu diesen Listen, die es da gibt, zu diesen Registern. Und er war sauber, oder? Er hatte keinerlei Vorstrafen. Der Direktor hat mir das alles erzählt. Er hat mir versichert, dass man nichts hätte tun können. Er meinte, dieser Mann habe Rache an einem der Schüler üben wollen, Sarah sei einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Was passiert ist, sei ein tragisches Unglück, aber ein Einzelfall, ein Ausreißer. Es sei der unergründliche Wille Gottes, hat er zu mir gesagt.
Ich habe seitdem noch nicht wieder mit ihnen gesprochen. Mit den Freunden, von denen ich gerade erzählt habe. Ich schreibe es ihrem Schock zu, was sie gesagt haben. Ich meine, so reagiert ja erst einmal jeder, oder? Man sucht einen Schuldigen. Es heißt ja, das wäre etwas sehr Englisches, dieses Bedürfnis, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, einen Sündenbock zu suchen, aber ich glaube, das tun nicht nur wir. Es liegt einfach in der menschlichen Natur. Ich meine, ich kann nicht leugnen, dass auch ich so Momente habe. Dass ich der Versuchung manchmal erliege. Wissen Sie, was ich mir wünschen würde? Natürlich wissen Sie das, aber wissen Sie auch, was ich mir noch wünschen würde? Dass er nicht tot wäre. Damit ich ihn zur Rede stellen könnte. Deshalb. Manchmal deshalb. Ich wünschte, er wäre noch am Leben, dann könnte ich ihn fragen … Ich weiß nicht genau, was. Wahrscheinlich würde ich ihn fragen, warum. Auch wenn ich meine Zweifel habe, ob er eine Antwort hätte. Mir scheint, wenn er rational genug wäre, um darauf zu antworten, hätte er es gar nicht erst getan.
Dann, in anderen Momenten, da wünsche ich mir, er wäre noch am Leben, damit ich ihn umbringen könnte.
Das ist nicht ernst gemeint. Ich meine das nicht ernst.
Manchmal sicher schon, aber eigentlich meine ich es nicht ernst.
Ich glaube, ich tue dasselbe wie meine Freunde. Es ist schwer, nicht wahr? Wenn etwas Schreckliches passiert und man niemandem die Schuld geben kann. Oder niemandem mehr. Wissen Sie, was ich meine? Man wird mit Schmerz leichter fertig, wenn man ihn in Zorn umwandeln kann, ihn gegen jemanden richten, jemanden beschuldigen, irgendjemanden, selbst wenn er gar nicht die Schuld trägt.
Wissen Sie, was ich meine?
L ucia behielt recht. Die Wolken schwollen zwar an, aber sie regneten sich nicht ab. Die Wirkung war eher die, als schließe man in einem ohnehin schon stickigen und überheizten Zimmer die Fenster. Und die Wolken blieben. Den ganzen Nachmittag über war es dunkel, lange bevor der Abend kam. Dann, am Abend, waren weder Sonne noch Sterne zu sehen. Die Nacht war kein bisschen kühler als der Tag.
Sie schlief nicht. Normalerweise, wenn sie sagte, sie hätte nicht geschlafen, wusste sie, dass sie doch geschlafen hatte, wenn auch immer nur ein, zwei Stunden am Stück. Aber in dieser Nacht, in der Nacht nach dem Gedenkgottesdienst, schlief sie nicht. Sie lag unbedeckt auf dem kratzigen Laken und umklammerte ein Stück Decke, einfach, weil sie irgendetwas zum Umklammern brauchte, und ihr Kopf lag nassgeschwitzt auf Kissen, die sich selbst auf der Unterseite anfühlten, als hätte gerade erst jemand darauf gelegen. Sie versuchte, sich einzureden, dass in ganz London niemand schlief, dass das ganze Land wach lag und sich genauso unwohl und gerädert fühlte wie sie. Sie versuchte es, glaubte am Ende jedoch nur, dass sie nie wieder würde schlafen können, während alle anderen – diejenigen, die am nächsten Morgen sagen würden, sie hätten kein Auge zugetan, also wirklich kein Auge – in Wahrheit immer mal wieder für ein oder zwei Stunden einschliefen.
Am nächsten Morgen auf der Wache sah niemand aus, als hätte er nicht geschlafen. Ihre Kollegen wirkten kein bisschen matter, kein bisschen zerzauster als sonst. Lucia dagegen betrachtete das Bild, das ihr von ihrem Monitor, von der Glastrennwand zu Coles Büro und aus dem Spiegel auf der Damentoilette entgegenblickte, als Fälschung, mit Mascara und Make-up auf eine rissige, zerschlissene Leinwand gemalt. Sie trank Kaffee, obwohl sie wusste, dass sie zu viel davon trank. Sie schwitzte und war gereizt, und der Kaffee ließ sie noch mehr
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