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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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wegzubrennen. Das hat Gabby Blake erzählt. Und ich glaube auch, es stimmt, weil Tracey nämlich, als sie wieder zur Schule kam, lauter rote Pünktchen um die Nase herum hatte. Sie hat gesagt, der Cockerspaniel ihres Onkels hätte sie gekratzt, aber nach Kratzern sah das eigentlich nicht aus. Eher wie aufgeplatzte Bläschen, und das wäre ja auch logisch, wenn das wirklich stimmt, was Gabby erzählt hat. Man sieht die Narben immer noch. Sie glänzen so. Manchmal, wenn das Licht so drauf fällt, sieht es aus, als hätte sie geweint.
    Nein, eigentlich nicht so sehr, nicht mehr. Ich wurde es, eine halbe Ewigkeit, eigentlich mein ganzes erstes Jahr lang, aber jetzt ärgern sie mich nur noch ab und zu, und sie haben praktisch jeden mal auf dem Kieker. So läuft das halt. Eigentlich bin ich noch ganz gut dran, denn da gibt es so einen, Elliot heißt er. Er ist in der Siebten. Der hat so ein riesiges Muttermal im Gesicht, und außerdem ist er rothaarig, und er hat keine richtigen Freunde, deshalb kriegt er immer das meiste ab. Wenn ich den Mund halte, falle ich nicht mehr auf. Außerdem hab ich Freunde, das hilft. Na ja, viereinhalb. Nein, vier. Eigentlich vier. Vince Robins hat meinen DS kaputt gemacht, deshalb ist er nicht mehr mein Freund.
    Vier Freunde sind nicht gerade viel, schätze ich. Sie haben bestimmt viel mehr. Die meisten haben viel mehr. Meine Schwester hat bestimmt an die hundert. Die hängen immer bei uns zu Hause rum. Das nervt, weil sie sich immer im Wohnzimmer breitmachen, und ich hab in meinem Zimmer keinen Fernseher. Außerdem ist es peinlich. Sie werfen mir immer Luftküsse zu, rufen Nick-iiieee, oh Nick-iiieee, mit verstellter Stimme, so Sachen. Ich tue so, als hör ich sie nicht, oder sag ihnen, sie sollen den Mund halten. Meist geh ich hoch in mein Zimmer.
    Meine Schwester hat jedenfalls Hunderte von Freunden, und ich hab nur vier. Aber das macht mir nichts aus. Es ist besser als vorher. Und vier reichen mir. Wenn ich so darüber nachdenke, sind vier Freunde ganz schön viele. Ich finde eigentlich, ich hab Glück gehabt. Und das hab ich wirklich, im Vergleich zu manchen anderen.

G egenüber dem Schultor lungerte eine Meute Journalisten in der Hitze herum. Sie hätten überall warten können, aber als Jäger mit derselben Beute hatte es sie unwillkürlich aufeinander zugetrieben. Lucia erkannte einige Gesichter. Ganz sicher erkannten die meisten Journalisten ihr Gesicht. Obwohl sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf sie zuging, sprangen die, die gesessen hatten, sofort auf, als sie sie kommen sahen. Stifte wurden gezückt, Objektivdeckel geöffnet. Zigaretten wurden nach einem letzten hastigen Zug auf den Boden geworfen und von Gummisohlen auf dem Gehweg ausgedrückt.
    »Detective!«, rief jemand. »He, Detective!«
    »Was führt Sie hierher, Detective? Na los, Schätzchen, verraten Sie uns was!«
    Das hätte sie gern. Abgesehen von dem »Schätzchen« hätte sie das wirklich gern. Doch sie ging weiter. Als sie fast am Schultor angelangt war, rief ihr eine weitere Stimme hinterher.
    »Detective! Was geht hier vor sich, Detective? Der kleine Samson. Der Amoklauf. Ein komischer Zufall, finden Sie nicht?«
    Diesmal blieb Lucia stehen. Sie blieb stehen, bevor sie darüber nachdenken konnte.
    »Kommen Sie schon, Detective.« Wieder dieselbe Stimme. »Uns können Sie es doch verraten. Ein Geheimnis ist bei uns gut aufgehoben.«
    Es folgte allgemeines Gelächter, aber auch ein Anflug von Aufregung. Der Abstand zwischen Lucia und den Journalisten verringerte sich. Ein Mann – der, der gesprochen hatte, vermutete Lucia – war bereits auf halbem Weg über die Straße, und sein Diktiergerät war noch näher. »Ganz inoffiziell. Ihr Name braucht nirgendwo aufzutauchen«, bohrte er weiter. Wie ein Film-Cop, der seine Waffe herausgibt, hielt er sein Diktiergerät hoch und schaltete es demonstrativ aus.
    Lucia sagte nichts. Sie drehte sich um, ignorierte die bettelnden Stimmen hinter sich ebenso wie den einzelnen Fluch und ging
     weiter Richtung Schultor.
    Der Schulhof war menschenleer, aber das konnte Lucia nicht über die Augenpaare hinter jedem Fenster hinwegtäuschen. Sie spürte förmlich, wie ihr der strenge Blick des Gebäudes über den Schulhof folgte. Sonnenlicht sickerte durch die dünne Wolkenschicht, die über der Stadt hing, doch als sich Lucia dem Eingang näherte, wirkte der Tag plötzlich weniger hell. Immer noch heiß, immer noch schwül, aber auch düsterer, obwohl das Gebäude

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