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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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heute keinen sichtbaren Schatten warf. Lucia ging die Treppe hoch. Die Glasscheiben der Türen warfen ihr nur ihr eigenes Spiegelbild zurück. Hier drin ist niemand, schien das Gebäude zu sagen. Niemand, der mit dir sprechen will. Lucia zog eine der Türen auf und ging hinein.
    Augenblicklich verflog dieses Gefühl. Ein paar Schülerinnen schlenderten durch die Eingangshalle; die Mädchen steckten die Köpfe zusammen und lachten. Entweder sahen sie Lucia nicht, oder sie beachteten sie nicht. Aus den Klassenräumen weiter hinten hörte sie Kinderstimmen und die Stimmen von Lehrern, die sie zu übertönen versuchten, und auch sonst war es die übliche Geräuschkulisse einer Schule während der Unterrichtszeit: Stühle, die über den Boden schrappten, herunterfallende Bücher, das Aufprallen von Bällen in der Turnhalle.
    Aus dem Flur kam eine Lehrerin: Matilda Moore, die junge Chemielehrerin, die zur gleichen Zeit wie Samuel Szajkowski an der Schule angefangen hatte. Ein Stakkato klackernder Absätze eskortierte sie über den Parkettboden. Lächelnd kam sie näher. »Sie sind Detective May, richtig?«, fragte sie. »Kann ich Ihnen helfen, warten Sie auf jemanden?«
    »Ich bin gekommen, um mit dem Direktor zu sprechen.«
    »Ich sehe mal nach, ob er verfügbar ist. Erwartet er Sie?«
    »Nein. Aber machen Sie sich keine Umstände. Ich weiß, wo ich ihn finde.«
    Die Lehrerin wirkte unsicher, aber Lucia nickte ihr nur zu und drehte sich um. Sie ging die Stufen zur Verwaltung hoch und spürte, wie Matildas Blick ihr folgte. Dann hörte sie wieder ihre Schritte, die sich jetzt entfernten. Lucia ging zum Zimmer des Direktors, hielt kurz inne und klopfte.
    »Herein.«
    Lucia trat ein.
    »Detective. Sie sind es.« Der Direktor sah von seinem Schreibtisch auf. Janet, seine Sekretärin, stand leicht vorgebeugt hinter ihm, vor der Brust einen Stoß Akten. Lächelnd nickte sie Lucia zu und wirkte verwundert, als Lucia ihr Lächeln nicht erwiderte. Sie entschuldigte sich und huschte zu der Tür, die ihr Vorzimmer mit dem Büro des Direktors verband. Lautlos zog sie sie hinter sich zu.
    »Detective«, sagte Travis noch einmal. »Ich muss sagen, ich habe nicht mit Ihrem Besuch gerechnet.«
    »Nein«, antwortete Lucia. »Das denke ich mir.« Sie blieb an der Tür stehen.
    Der Direktor wartete. Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und atmete rasselnd ein und aus. »Wie komme ich zu der Ehre?«
    »Es ist vorbei«, sagte Lucia. »Die Ermittlungen sind abgeschlossen.«
    »Ja, ich weiß. Ich habe mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen.«
    »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Lucia fort. »Es wird nichts herauskommen, was Sie in Schwierigkeiten bringt.«
    Travis’ Ellbogen ruhten auf den Armlehnen seines Stuhls. Zwischen den beiden Zeigefingern hielt er einen teuren Füllfederhalter. »Falls Sie gekommen sind, um mir Unbehagen zu bereiten, müssen Sie sich schon etwas weniger doppelsinnig ausdrücken, Detective.«
    Lucia spürte, wie Adrenalin ihr die Lungen zusammenpresste. Ihr Herz raste, und sie versuchte, es zu zügeln. »Ihnen Unbehagen bereiten?«, wiederholte sie. »Nein, das war nicht meine Absicht, Mr. Travis. Ich hätte gehofft, in Anbetracht der jüngsten Ereignisse wäre Ihnen schon unbehaglich genug zumute.«
    Travis legte den Füllhalter auf den Tisch. »Ich nehme an, Sie möchten keinen Tee, Detective May. Hat es Sinn, Ihnen einen Stuhl anzubieten?«
    Lucia schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte Travis. »Natürlich nicht. Dann kommen wir doch am besten zur Sache. Sie spielen sicher auf den Schüler Samson an. Ich nehme an, Sie wollen Beschwerden äußern.«
    »In der Tat. Ich hatte allerdings gehofft, es würde nicht nötig sein, das auszusprechen, was für Sie ebenso offenkundig sein sollte wie für mich.«
    »Was denn?«, fragte Travis. »Verraten Sie es mir. Sprechen Sie es doch einfach aus.«
    Lucia holte tief Luft. »Sie tragen die Verantwortung, Herr Direktor. Sie sind schuld. Sie sind schuld am Tod des Jungen, ebenso wie an dem Blut, das in Ihrer Aula vergossen wurde.«
    Der Direktor schwieg einen Moment. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Schließlich lachte er: ein einzelnes, verächtliches Bellen.
    »Sie finden das also komisch, Mr. Travis. Noch ein Junge ist tot. Noch eine Familie hat ein Kind verloren. Und Sie finden das komisch.«
    Die Miene des Direktors verfinsterte sich. »Wie können Sie es wagen?« Er stand auf. »Ich frage Sie noch einmal: Wie können Sie es wagen? Wenn ich

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