Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Toter zu wenig

Ein Toter zu wenig

Titel: Ein Toter zu wenig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Leigh Sayers
Vom Netzwerk:
weiter.
    Geist und Materie waren ein und dasselbe, das war das Generalthema des Physiologen. Materie konnte sich sozusagen in Gedanken umwandeln. Man konnte Leidenschaften mit dem Skalpell aus dem Gehirn schneiden. Man konnte Phantasien mit Drogen bekämpfen und überlebte Konventionen wie eine Krankheit heilen. »Das Wissen um Gut und Böse ist ein bekanntes Phänomen, zusammenhängend mit einer bestimmten Verfassung der Gehirnzellen und behebbar.« Das war so ein Satz; und dann wieder: Das Gewissen des Menschen läßt sich im Grunde mit dem Stachel der Biene vergleichen, der alles andere als dem Wohl seiner Besitzerin dient und nicht ein einziges Mal seine Aufgabe erfüllen kann, ohne ihren Tod herbeizuführen. Sein Überlebenswert ist somit rein sozial; und sollte die Menschheit sich aus der jetzigen Phase ihrer sozialen Entwicklung zu einer Stufe größeren Individualismus weiterbewegen, wie einige unserer Philosophen bereits geäußert haben, so könnten wir davon ausgehen, daß dieses interessante geistige Phänomen nicht weiter in Erscheinung treten würde, wie die Nerven und Muskeln, die einst unsere Ohren und Kopfhaut bewegten, inzwischen bei allen Menschen, außer ein paar rückständigen Individuen, verkümmert und nur noch für den Physiologen von Interesse sind.«
    »Beim Zeus!« dachte Lord Peter. »Das ist die ideale Doktrin für einen Verbrecher. Ein Mensch, der das glaubt, würde nie -« Und da geschah es - es geschah genau das, was er halb im Unterbewußtsein erwartet hatte. Es geschah plötzlich, so natürlich und unverwechselbar wie ein Sonnenaufgang. Er erinnerte sich - nicht an das eine, nicht an das andere, nicht an eine logische Folge von diesem und jenem, sondern an alles - das vollkommene, vollständige Ganze, schlagartig in allen seinen Dimensionen; es war, als ob er außerhalb dieser Welt stände und sie in der Unendlichkeit des Raums hängen sähe. Er brauchte überhaupt nicht mehr zu überlegen, gar nicht darüber nachzudenken. Er wußte es.
    Es gibt ein Spiel, bei dem man aus einem wahllosen Durcheinander von Buchstaben ein Wort bilden soll, etwa so: WABSELCH Der langsame Weg zur Lösung des Problems besteht darin, nacheinander sämtliche möglichen Kombinationen durchzuprobieren und sinnlose Ergebnisse wie SWEBCHAL oder BLACHWES auszusondern. Eine andere Möglichkeit wäre, so lange auf die ungeordnete Buchstabenfolge zu schauen, bis sich ohne einen erkennbaren, bewußten logischen Prozeß oder durch einen zufälligen äußerlichen Anstoß die Kombination SCHWALBE ganz von selbst und mit unbezweifelbarer Gewißheit anbietet. Danach braucht man die Buchstaben nicht einmal mehr in der richtigen Reihenfolge hinzuschreiben. Die Sache ist klar. Ebenso fügten sich die verstreuten Elemente zweier verdrehter Vexierrätsel, die bis dahin wild in Lord Peters Kopf herumgeschossen waren, mit einemmal zusammen und ließen ab sofort keine Frage mehr offen. Ein Bums auf dem Dach des letzten Reihenhauses - Levy in einem kalten Regenguß auf der Battersea Park Road im Gespräch mit einer Prostituierten - ein einzelnes rötliches Haar – Baumwollfusseln - Inspektor Sugg, der den großen Chirurgen aus dem Seziersaal des Krankenhauses fortrief - Lady Levys angegriffene Nerven - der Karbolgeruch - die Worte der Herzogin - »keine eigentliche Verlobung, nur so eine Art Übereinkommen mit dem Vater« - peruanische Ölaktien - dunkle Haut und das gebogene, fleischige Profil des Mannes in der Badewanne - Dr. Grimbolds Aussage: »Meines Erachtens ist der Tod erst einige Tage nach dem Schlag eingetreten« - Gummihandschuhe - ganz schwach sogar Mr. Appledores Stimme: »Er kam einmal mit einem Flugblatt gegen die Vivisektion zu mir, Sir« - alle diese und noch viele andere Dinge klangen jetzt zusammen in einem einzigen Akkord wie Glocken in einem Kirchturm, und durch den Lärm tönte unablässig die große Baßglocke: »Das Wissen um Gut und Böse ist ein Phänomen des Gehirns, das behebbar ist, behebbar ist, behebbar ist. Das Wissen um Gut und Böse ist behebbar.«
    Lord Peter Wimsey gehörte nicht zu den jungen Männern, die sich gewöhnlich sehr ernst nahmen, doch diesmal war er aufrichtig entsetzt. »Es ist unmöglich«, sagte sein Verstand kleinlaut. » Credo quia impossibile «, sagte seine innere Gewißheit mit unbeirrbarer Selbstsicherheit. »Also gut«, sagte sein Gewissen, das sich augenblicklich mit dem blinden Glauben verbündete, »und was willst du nun machen?«
    Lord Peter stand auf und ging im

Weitere Kostenlose Bücher