Ein Traum in roter Seide
Tyler. „Ich stelle meinen Wagen nie neben ih ren. Die Frau fährt wie eine Verrückte."
„Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der plötzlich sehr vorsichtig in einem sehr seriös wirkenden Auto herumfährt. Kannst du dir etwa keine weiteren Strafpunkte mehr erlauben?" neckte Michelle ihn.
„Nein, das ist nicht der Grund", antwortete er, ohne eine Miene zu verziehen. „Das ist mein neues Ich. Der Leopard ohne dunkle Flecken im Fell."
„Du liebe Zeit, ich bin beeindruckt."
„Hoffentlich."
„Soll ich meine Sachen im Auto lassen, oder bringen wir sie erst zu dir?" Es war ein ziemlich weiter Weg an dem terrassenförmig angelegten Garten und dem Swimmingpool vorbei zu dem umgebauten Bootshaus, in dem Tyler wohnte.
In seinen Augen blitzte es auf. „Am besten lassen wir alles im Auto.
Momentan kann ich für nichts garantieren, wenn ich mit dir allein bin."
Michelle musste lachen. Sie gestand sich jedoch ein, dass sie genauso empfand. Während der Fahrt hatte sie die erotische Spannung zwischen ihnen allzu deutlich gespürt.
Als sie Tyler über die Kühlerhaube seines Wagens hinweg ansah, 84
fragte sie sich, ob er nur mit ihr schlafen wollte. Vielleicht war der Hinweis auf das veränderte Leopardenfell nur leeres Ge rede, Tyler hatte sie schon immer gern geneckt, und er hatte beinah grundsätzlich eine andere Meinung vertreten als sie. Wenn sie behauptet hatte, irgendetwas sei weiß, hatte er garantiert widersprochen und erklärt , es sei schwarz. Wenn sie ihm vorgeworfen hatte, oberflächlich zu sein, hatte er betont, er sei tiefgründig. Während des Studiums hatte er sich oft absichtlich mit ihr ge stritten, und die endlosen Streitgespräche hatten ihm offenbar Spaß gemacht. Kevin hatte sich dann immer verabschiedet und sie mit Tyler allein gelassen.
Im Nachhinein wurde Michelle klar, dass auf diese Art und Weise eine Hassliebe entstanden war. Die Diskussionen hatten sie intellektuell herausgefordert, zugleich aber auch irritiert. Manchmal war sie nahe daran gewesen, sich nicht mehr mit Worten zu wehren, sondern einfach um sich zu schlagen.
Jetzt fragte sie sich, ob sie ihn in Wahrheit nur hatte berühren und anfassen wollen. War sie deshalb bereit, eine von Tylers vielen Freundinnen zu werden? Wollte sie nur irgendwelche Gefühle befriedigen, die viele Jahre in ihr geschlummert hatten? Der Gedanke irritierte sie.
„Tyler", begann sie.
„Oh, oh! Das klingt wenig verheißungsvoll!"
„Ich habe gerade nachgedacht..."
„Auch das noch." Er stöhnte auf.
„Red keinen Unsinn. Ich wollte nur sagen, wir können damit aufhören, uns zu verstellen. Kevins Hochzeit ist vorbei."
Seine Miene wurde kühl, und in seinen Augen blitzte es ärgerlich auf.
„Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt. Das, wa s wir miteinander haben, ist nicht gespielt. Du liebe Zeit, Michelle, ich..."
„Nein, nein", unterbrach sie ihn und schlug die Wagentür zu. „Du verstehst mich falsch. So habe ich es nicht gemeint." Sie ging um das Auto herum auf Tyler zu.
„Pass auf", begann sie noch einmal und wählte die Worte mit Bedacht,
„trotz all unserer Fehler und Schwächen waren wir immer ehrlich zueinander. Ich meine, wir haben uns alles Mögliche an den Kopf geworfen, und wahrscheinlich hatten wir beide damit auch Recht.
Aber hast du jemals darüber nachgedacht, dass meine manchmal zu 85
brutale Offenheit ganz andere Gründe ge habt haben könnte? Du hast gesagt, du hättest schon lange den Wunsch gehabt, mit mir zu schlafen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich etwas Ähnliches empfunden habe. Vielleicht hat alles schon im ersten Semester auf der Uni angefangen, und vielleicht habe ich mich damals nur immer mit dir herumgestrit ten, weil ich mir gewünscht habe, du würdest mich lieben."
Er war verblüfft. Das verrieten ihr sein Blick und seine Körpersprache, denn er versteifte sich und atmete tief ein und aus.
Sogleich begriff Michelle, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte sich ganz falsch ausgedrückt, und es klang so, als hätte sie ihn jahrelang heimlich geliebt. So etwas gefiel Männern wie Tyler bestimmt nicht. Er hatte ihr sowieso immer vorgehalten, sie sei sentimental und sensibel und würde auch dann noch an einer Beziehung festhalten, wenn sie längst beendet sei.
Wahrscheinlich war er so entsetzt, weil er damit rechnete, dass sie ihm jetzt ihre unsterbliche Liebe erklärte.
Panik stieg in Michelle auf. Sie musste den Schaden unbedingt begrenzen, sonst würde er die Affäre
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