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Ein Traum von einem Schiff. Eine Art Roman

Ein Traum von einem Schiff. Eine Art Roman

Titel: Ein Traum von einem Schiff. Eine Art Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Maria Herbst
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Eigentlich nehme ich diese fürchterliche Zuckerplörre nur zusammen mit Salzstangen zu mir und auch das nur, wenn ein Magen-Darm-Virus danach verlangt. Jetzt aber schien es die einzige Möglichkeit zu sein, beide Bedürfnisse mit einer Klappe zu schlagen. Es gelang. Zwar schmeckte dieser als kohlensäurehaltiges Erfrischungsgetränk getarnte Sirup entsetzlich, aber für den Moment fühlten wir uns gewässert und belebt.
    Sitzen nun an dem Fuße einer hochhaushohen Madonna und sind uns einig, dass dieses Santiago de Chile selbst von oben kaum zu ertragen ist. Zwar lassen einen die teilweise schneebedeckten Berggipfel der Anden über das eine oder andere hinwegsehen. Die Skyline jedoch bleibt unansehnlich, die Stadt wirkt wie eingekesselt und über allem ist die schlechte Luft geradezu zu sehen. Eine gelbliche Glocke hängt über allem.
     
    »Wie Stuttgart«,
     
    sagen wir synchron und lachen ein Lachen, das sich bei mir mit einem Hauch Wehmut mischt. Ob auch bei ihr, trau ich mich nicht zu fragen. In der schwäbischen Metropole hatten wir uns damals bei Dreharbeiten kennengelernt. Lange her, längst vergessen. Nur die Details sind noch verdammt präsent.
     
    »Ganz schön klein«,
     
    sagt sie auf einmal, und ich weiß nicht recht, wen sie meint. Sie schwenkt ihren Blick nach oben und, richtig, diese Maria hier ist kein Vergleich zu ihrem Sohnemann auf dem Corcovado in Rio de Janeiro. Der ist fast zweimal so hoch und darf außerdem die Arme ausbreiten, was ihn noch stattlicher erscheinen lässt. Geradezu zierlich nimmt sich dagegen seine Mutter hier aus.
    Ich dachte, die Marienverehrung hätte gerade in den südamerikanischen Ländern so einen unfassbar hohen Stellenwert. Hat sich da am Ende dann doch wieder der Macho durchgesetzt? Ich habe diesen Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht und will ihn gerade in Worte fassen, als ein fürchterliches Rumpeln die heilige Ruhe durchbricht. Es ist eher ein rhythmisches Hämmern als ein diffuses Scheppern, auf jeden Fall wird es in Sekundenschnelle lauter und lauter, und der Boden scheint zu vibrieren.
    Wow. Erdbeben.
    Ich drehe mich um, und erst diese Bewegung lässt eine genauere Ortung zu. Es ist … die Statue. Ein Wunder? Eine neuerliche Fleischwerdung? Jedenfalls scheint sie uns was mitteilen zu wollen. Mir stellen sich die Haare auf, die feinen, hinten im Nacken, ich spüre, wie sich Blitzschweiß in Tröpfchen im Bereich meiner Oberlippe bildet, bekomme aber meine wie gelähmt wirkende Zunge nicht heraus, um ihn zu entfernen, und überhaupt bricht um uns herum auch bei allen anderen fast so etwas wie eine Panik aus. Eine Mutter hält schützend die Hände über ihren Dreijährigen, reißt ihn hoch und läuft den Berg hinab, schaut immer wieder mit aufgerissenen Augen nach hinten, ein älterer Herr mit Bart bekreuzigt sich in atemberaubender Geschwindigkeit, er scheint etwas wegwischen zu wollen, andere fallen auf die Knie, wieder andere sich in die Arme, als hätten sie auf dieses Zeichen gewartet, und ich meine, aus mindestens einem einheimischen Mund das wort »Armageddon« zu hören.
    Für einen kurzen katholischen Moment beschleicht mich das ungute Gefühl, dass es meine leicht blasphemischen Gedanken sind, die gerade abgestraft werden. Unzählige Menschen werden ihr Leben lassen, viele werden zu Witwen oder Waisen, kaum vorstellbares Leid wird sich auf die Hinterbliebenen legen, und ich bin schuld.
    Wow. Herbst.
    Nur eine einzige Person ist in diesem endzeitlichen Szenario die Ruhe selbst. Sie beobachtet, analysiert und schlussfolgert und all das mit einer fast schon buddhahaften Gelassenheit, die ich in der Vergangenheit vielleicht zu oft und ungerecht mit Phlegma verwechselt habe. Christiane. Längst ist sie nämlich aufgestanden, hat sich Richtung mutmaßlicher Quelle des unheilvollen Getöses aufgemacht, der Madonna, und hält in diesem Augenblick eine Tafel hoch. »fuera de servicio« steht da, und ich wusste nicht, dass eine Heilige außer Betrieb sein kann. Fakt ist, dass in ihr – sie ist hohl, und das ist keine weitere Lästerung, sondern beschreibt rein physikalisch den Körper dieser Skulptur – Bauarbeiten stattfinden, und zwar mit Pressluft, Hammer und allem, was man so braucht, um ein Kunstwerk zu warten und sturm- und wetterfest zu machen. Der Südamerikaner an sich tendiert da anscheinend in seinem kindlichen Glauben an Wundertätigkeit, in seiner Vorstellung von Gut und Böse, nämlich Himmel und Hölle, und in seinem Festhalten an

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