Ein Tropfen Zeit
sie.
Die Jungen gingen hinaus, um sich den nächsten Gang in der Küche zu holen, und Vita wandte sich mit ängstlicher Miene an mich. »Ich habe vor ihnen nichts gesagt«, flüsterte sie, »aber Bill war über die Nachricht entsetzt, nicht weil es an sich schon ein tragischer Unfall ist, sondern weil er meinte, daß irgend etwas Schreckliches dahinterstecke. Er drückte sich nicht genauer aus, aber er sagte, du wüßtest, was er meine.«
Ich legte Messer und Gabel hin. »Was hat Bill gesagt?«
»Er tat ziemlich geheimnisvoll. Aber stimmt es, daß du ihm von irgendeiner Räuberbande in der Gegend erzählt hast, die Leute überfiel? Er hoffte, daß du es der Polizei mitgeteilt hast.«
Das hatte gerade noch gefehlt. Bills ungeschickter und unangebrachter Versuch, zu helfen, konnte uns nur in Schwierigkeiten bringen.
»Er ist verrückt«, sagte ich kurz. »Ich habe ihm nie so etwas erzählt.«
»Oh, nun ja …«, und dann fügte sie, immer noch besorgt, hinzu: »Ich hoffe, du hast dem Inspektor wirklich alles gesagt, was du weißt.«
Die Jungen kamen ins Eßzimmer, und wir beendeten schweigend die Mahlzeit. Danach brachte ich das Paket, die Brieftasche und den Spazierstock hinauf ins Gästezimmer. Sie gehörten dorthin, zu den übrigen Sachen, die im Schrank hingen. Den Stock wollte ich selbst benutzen, er war der letzte Gegenstand, den Magnus in Händen gehalten hatte.
Ich dachte an die Sammlung von Stöcken in seiner Wohnung; darunter befanden sich ein Gewehrstock, ein Schwertstock, einer mit einem Teleskop am Ende und ein anderer mit einem Griff in Form eines Vogelkopfes. Dieser war vergleichsweise einfach; auf dem üblichen Silberknauf waren die Initialen Kapitän Lanes eingraviert. Er war der Urheber jener Familienmanie für Spazierstöcke, und ich erinnerte mich noch dunkel, daß er mir diesen hier schon vor langer Zeit gezeigt hatte, als ich in Kilmarth zu Besuch war. Er hatte einen versteckten Mechanismus, aber leider wußte ich nicht mehr, worum es sich dabei handelte. Vielleicht löste sich eine Feder, wenn man den Knauf herunterdrückte. Ich versuchte es; nichts geschah. Ich versuchte es noch einmal, drehte den Knauf und hörte ein Klicken. Nun schraubte ich den Knauf ab und fand darunter einen winzigen silbernen Meßbecher, gerade groß genug für einen halben Schluck Schnaps oder eine andere Flüssigkeit. Magnus hatte den Becher ausgewischt, wahrscheinlich mit einer Papierserviette, die er fortgeworfen oder vergraben hatte, als er seinen letzten Spaziergang antrat. Ich wußte, was der Becher enthalten hatte.
18
Der Anwalt, Herbert Dench, rief nachmittags noch einmal an und sagte, wie erschüttert er über den plötzlichen Tod seines Mandanten gewesen sei. Ich teilte ihm mit, daß die Ermittlung wahrscheinlich erst in zehn oder vierzehn Tagen durchgeführt werde, und schlug vor, er solle alle Vorbereitungen für die Beerdigung mir überlassen und erst morgens, am Tag der Einäscherung, kommen. Zu meiner großen Erleichterung war es ihm recht, denn ich hatte den Eindruck, daß er genau das war, was Vita einen ›stocksteifen Gesellen‹ nannte, und wenn wir Glück hatten, besaß er genug Takt, um noch mit einem Nachmittagszug zurückzufahren. Dann fiel er uns nur ein paar Stunden zur Last.
»Ich würde Ihre Zeit sonst nicht in Anspruch nehmen, Mister Young«, sagte er, »und tue es nur aus Achtung vor dem verstorbenen Professor Lane, angesichts der unglücklichen Todesumstände, und weil Sie im Testament bedacht sind.«
»Ach«, sagte ich erschrocken, »ich wußte gar nicht …« und hoffte, daß es nur die Spazierstöcke sein würden.
»Aber das möchte ich lieber nicht am Telefon mit Ihnen besprechen«, fügte er hinzu.
Erst als ich den Hörer aufgelegt hatte, wurde mir klar, daß ich mich in einer ziemlich peinlichen Lage befand; ich wohnte einer mündlichen Vereinbarung gemäß unentgeltlich in Magnus' Haus. Vielleicht wollte der Anwalt uns so bald wie möglich hinaussetzen, möglicherweise gleich nach dem Ermittlungsverfahren. Der Gedanke war niederschmetternd. Das konnte er doch wohl nicht tun! Ich war natürlich gern bereit, Miete zu zahlen, aber vielleicht hatte er irgendeinen Einwand und meinte, das Haus müsse abgeschlossen und vor dem Verkauf Maklern übergeben werden. Ich war ohnehin schon deprimiert genug, und die Aussicht auf einen plötzlichen Umzug würde die Situation nur noch verschlimmern.
Den übrigen Nachmittag verbrachte ich am Telefon und ordnete die Beerdigung an,
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