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Ein Tropfen Zeit

Titel: Ein Tropfen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne DuMaurier
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ausgestorben. Kein Rauch über den Wirtschaftsgebäuden und dem Kapitelhaus; alles schien verlassen. Reife Äpfel hingen an den Bäumen – man hatte vergessen, sie zu pflücken. Als wir den Acker weiter oben erreichten, bemerkte ich, daß der Boden nicht gepflügt und das Korn nicht geerntet war und am Boden verfaulte, als hätte ein nächtlicher Wirbelsturm es niedergeschlagen. Auf dem Weideland lief das Vieh frei herum und kam uns verzweifelt brüllend nach, als hoffte es, daß Robbie es in den Stall treiben werde.
    Wir überquerten mühelos die Furt, denn es war Ebbe, und der Sand lag schmutzig-braun im Regen. Über Julian Polpeys Dach kräuselte sich schwacher Rauch – er wenigstens hatte also das Unheil überlebt –, aber Geoffrey Lampethos Haus im Tal wirkte ebenso verlassen wie die anderen Häuser im Dorf. Dies war nicht die Welt, die ich vorher gekannt hatte, die Welt, die ich liebte, nach der ich mich sehnte und deren Haß und Liebe einen seltsamen Zauber ausübten weil sie der grauen Eintönigkeit der Gegenwart enthoben schien. Diese Gegend glich in ihrer trostlosen Ode einer Landschaft des zwanzigsten Jahrhunderts nach der Katastrophe; aus ihr sprach totale Hoffnungslosigkeit, eine Vorahnung des Atomtodes.
    Robbie ritt bergauf über die Furt durch das dicht verwachsene Gehölz und erreichte so die Mauer um den Hof von Kylmerth. Kein Rauch kam aus dem Schornstein. Er schwang sich von seinem Pony, ließ es allein zum Stall trotten und öffnete die Haustür.
    »Roger!« hörte ich ihn rufen, und noch einmal »Roger!« Die Küche war leer, kein Torf schwelte im Herd. Überreste einer Mahlzeit lagen auf dem Tisch, und als Robbie die Leiter zur Schlafkammer hinaufstieg, sah ich, wie eine Ratte über den Boden huschte und verschwand.
    Oben war anscheinend niemand, denn Robbie kam die Leiter sogleich wieder herunter und öffnete die Tür, die zum Stall und zugleich auf einen schmalen Gang vor einer Vorratskammer und dem Keller führte. Dünne Lichtstreifen fielen durch die Mauerrisse in den dunklen Raum, und durch sie gelangte auch ein wenig Luft herein. Aber dies genügte nicht, um den dumpfen, süßlichen Geruch der Fäulnis zu vertreiben, den die in Reihen an der Wand liegenden faulen Äpfel ausströmten. In einer Ecke stand ein eiserner, durch langes Stehen verrosteter Kessel, daneben Krüge und Gläser, eine Gabel mit drei Zinken und ein Blasebalg. Ein seltsamer Raum für ein Krankenbett. Offenbar hatte Roger seinen Strohsack von der Dachkammer hereingeschleppt, ihn neben den Riß in der Mauer gelegt und war dann hier liegen geblieben – weil er zu schwach war oder weil er nicht die Willenskraft aufbrachte, sich noch in die Dachkammer zu schleppen.
    »Roger …«, flüsterte Robbie, »Roger!«
    Roger schlug die Augen auf. Ich erkannte ihn nicht wieder. Sein Haar war weiß, die Augen tief eingesunken, das Gesicht mager und abgespannt. Unter dem weißen, stoppeligen Bart sah ich bleiche, schorfbedeckte Flecken und hinter den Ohren ähnlich bleiche Schwellungen. Er murmelte etwas; vermutlich wollte er Wasser, denn Robbie lief in die Küche. Ich kniete neben ihm nieder und betrachtete den Mann, den ich beim letztenmal noch so zuversichtlich und stark gesehen hatte.
    Robbie kehrte mit einem Krug voll Wasser zurück, legte den Arm um seinen Bruder und half ihm trinken. Aber nach dem zweiten Schluck bekam Roger keine Luft mehr und fiel keuchend auf den Strohsack zurück.
    »Es gibt kein Mittel mehr«, sagte er. »Die Schwellung hat sich schon bis zur Kehle ausgebreitet und verstopft die Luftröhre. Befeuchte mir nur die Lippen, das tut schon gut.«
    »Wie lange liegst du schon hier?« fragte Robbie.
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht vier Tage und Nächte lang. Bald nachdem du fort warst, wußte ich, daß es mich erwischt hatte, und ich trug mein Bett in den Keller, so daß du unbesorgt oben schlafen konntest, wenn du wiederkamst. Wie geht es Sir William?«
    »Er hat's überstanden, Gott sei Dank, und die kleine Katherine auch. Elisabeth und die Diener haben sich noch nicht angesteckt. In Tywardreath sind in dieser Woche über sechzig Leute gestorben. Die Priorei ist geschlossen, wie du weißt, und der Prior und die Brüder sind nach Minster gefahren.«
    »Um die ist's nicht schade«, murmelte Roger. »Wir können ohne sie auskommen. Warst du in der Kapelle?«
    »Ja, ich habe das gewohnte Gebet gesprochen.«
    Er betupfte die Lippen seines Bruders noch einmal mit Wasser und versuchte ein wenig ungelenk, aber

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