Ein Tropfen Zeit
gründlich durchsucht, während ich die ganze Woche lang auf der Nase lag.«
»Das habe ich, und ich habe es heute sogar noch einmal durchgestöbert. Mrs. Collins gegenüber gab ich vor, nach einem vergrabenen Schatz zu suchen, und mir scheint, sie glaubte mir.«
»Und Sie fanden nichts, weil nichts da war.«
»Sie können verdammt froh sein, daß nichts mehr da war. Ich habe Willis' endgültigen Bericht in der Tasche.«
»Was steht darin?«
»Nur, daß die Droge eine toxische Substanz enthielt, die das zentrale Nervensystem angreift und zu totaler Lähmung führen kann. Ich brauche nicht auf weitere Einzelheiten einzugehen.«
»Zeigen Sie mir den Bericht.«
Er schüttelte den Kopf, und plötzlich war er nicht mehr da, Mauern umschlossen mich, ich stand in der Halle des Gutshauses der Champernounes und blickte durch das bleiverglaste Fenster in den Regen hinaus. Panik erfaßte mich, denn es sollte nicht geschehen, zumindest jetzt noch nicht; ich wollte zu Hause in meinen eigenen vier Wänden sein, und Roger sollte wie immer mein Führer und Beschützer sein. Er war nicht da, und die Halle war leer. Sie hatte sich verändert, seit ich sie das letztemal gesehen hatte. Ich sah mehr Möbel, mehr Wandteppiche, und der Vorhang, der die Tür zur Treppe verbarg, war zur Seite gezogen. Oben im Schlafzimmer weinte jemand, und ich hörte das Geräusch schwerer Schritte über mir. Ich blickte wieder hinaus in den Regen und stellte fest, daß es Herbst sein mußte, denn die Bäume auf dem Hang gegenüber, wo Oliver Carminowe sich und seine Leute versteckt hatte, als er Otto Bodrugan auflauerte, waren goldbraun wie damals. Aber heute ging kein Wind, der die Blätter herabwehte; sie hingen schlaff im Nieselregen, und über der Flußmündung lagen graue Nebelschleier.
Das Weinen verwandelte sich in gellendes Lachen; ein Becher und ein Ball rollten die Treppe herab in die Halle, wo der Ball unter dem Tisch liegenblieb. Ich hörte eine ängstliche Männerstimme: »Geh vorsichtig, Elisabeth!« Im gleichen Augenblick kam jemand schwerfällig die Stufen herab, hielt inne, die Hände gefaltet, das lange Kleid hinten nachschleifend, eine lächerliche kleine Haube schräg auf dem kastanienbraunen Haar. Ihre Ähnlichkeit mit Joanna Champernoune war zuerst frappierend, dann erschreckend, denn es war ein schwachsinniges Mädchen, ungefähr zwölf Jahre alt, mit großem, formlosem Mund und hoch im Kopf sitzenden Augen. Sie nickte lachend, hob Ball und Becher auf, warf sie in die Luft und jauchzte vor Entzücken. Plötzlich war sie des Spiels müde, stieß das Spielzeug zur Seite und begann im Kreise herumzuwirbeln, bis ihr schwindlig wurde und sie hinfiel. Sie blieb regungslos sitzen und starrte auf ihre Schuhe.
Wieder rief die Männerstimme von oben: »Elisabeth … Elisabeth!« Das Mädchen erhob sich mühsam und ungeschickt, lächelte und blickte zur Decke hinauf. Langsame Schritte kamen die Treppe herunter, und es erschien ein Mann in langem, weitem Gewand, das ihm bis an die Knöchel reichte, und einer Nachtmütze. Einen Augenblick meinte ich, ich sei in der Zeit zurückgereist, und dort stehe Henry Champernoune, schwach und bleich, im letzten Stadium seiner Krankheit, aber es war Henrys Sohn William – neulich noch ein Jüngling, der sich für seine Aufgabe als Familienoberhaupt wappnete, als Roger ihm die Nachricht vom Tod des Vaters überbrachte. Jetzt sah er aus, als sei er fünfunddreißig oder älter, und ich erkannte bestürzt, daß die Zeit mindestens zwölf Jahre übersprungen hatte und alle Monate und Jahre dazwischen in einer Vergangenheit begraben waren, die ich nie kennenlernen würde. Der eisige Winter von 1335 bedeutete William, der damals noch minderjährig und unverheiratet gewesen war, gar nichts. Nun war er Herr des Hauses, obgleich er, wie es schien, mit der Krankheit kämpfte und außerdem im unentrinnbaren Netz eines Familienverhängnisses gefangen war.
»Komm, liebes Kind«, sagte er sanft und breitete die Arme aus. Sie steckte den Finger in den Mund, lutschte daran, zuckte die Achseln, als habe sie sich plötzlich anders entschlossen, hob den Becher und den Ball auf und gab ihm beides.
»Ich spiele mit dir, aber nicht hier unten«, sagte er. »Katie ist krank, und ich darf sie nicht allein lassen.«
»Aber mein Spielzeug gebe ich ihr nicht, das will ich nicht«, sagte Elizabeth, wobei sich ihr Kopf auf und ab bewegte, und sie streckte die Hand aus, um ihm die Sachen zu entreißen.
»Was? Du willst
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