Ein Tropfen Zeit
in Angers erzogen und ist in der Kräuterkunde besonders bewandert. Sir Henry selbst hatte unbedingtes Vertrauen zu ihm.«
»Ich zweifle nicht an Sir Henrys Vertrauen, an den Erfahrungen des Mönchs und an seinem Eifer, diese Erfahrung anzuwenden, aber eine heilende Pflanze kann schädlich wirken, wenn die Dosis erhöht wird«, sagte Isolda.
Sie hatte die Drohung ausgesprochen, und er hatte sie verstanden. Ich erinnerte mich an den Tisch neben dem Bett und an die Schalen, die sorgfältig in Sacktuch gewickelt und fortgeschafft wurden.
»Dies ist ein Haus der Trauer«, sagte Roger, »und wird es mehrere Tage bleiben. Ich rate Euch, über diese Dinge mit meiner Herrin zu sprechen und nicht mit mir. Es ist nicht meine Sache.«
»Meine auch nicht«, erwiderte Isolda. »Ich spreche aus Anhänglichkeit gegenüber meinem Vetter, und weil ich mich nicht leicht täuschen lasse. Denke daran.«
Über uns begann eines der Kinder zu weinen, das Gemurmel brach ab, und man hörte eilige Schritte auf der Treppe. Die Tochter des Hauses – sie konnte nicht älter als zehn sein – stürzte ins Zimmer und warf sich in Isoldas Arme.
»Sie sagen, er ist tot«, stammelte sie, »aber er hat die Augen geöffnet und mich angeschaut, und dann schloß er sie wieder. Niemand anders hat es gesehen, sie waren zu sehr mit ihren Gebeten beschäftigt. Wollte er sagen, daß ich ihm ins Grab folgen muß?«
Isolda hielt das Kind schützend in den Armen, sah Roger unverwandt an und sagte plötzlich: »Wenn heute oder gestern Böses getan wurde, so wirst du und andere zur Verantwortung gezogen, wenn die Zeit gekommen ist. Nicht in dieser Welt, wo es uns an Beweisen fehlt, sondern in der anderen, vor Gott.«
Roger tat unwillkürlich einen Schritt vorwärts, vermutlich um sie zum Schweigen zu bringen oder ihr das Kind fortzunehmen. Ich trat ihm in den Weg, um ihn daran zu hindern, rutschte jedoch auf einem losen Stein aus und stolperte. Um mich war nichts als Erdhügel, Grasbüschel, Stechginster und die Wurzeln eines abgestorbenen Baumes, und hinter mir der alte Steinbruch, in dem alte Blechbüchsen und zerbröckelter Schiefer lagen. Ich griff nach einem krummen Zweig welken Ginsters und erbrach mich heftig. Zugleich hörte ich in der Ferne das Geheul einer Diesellokomotive, die unten im Tal vorbeibrauste.
7
Der Steinbruch grub sich tief in den Hang hinein und war mit Stechpalmen und Efeu bewachsen; Abfälle, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, lagen zwischen Erde und Steinen verstreut. Ein Pfad führte durch mehrere weitere, durch Böschungen und Gräben getrennte Schächte. Überall wucherte Ginster, der mir die Aussicht verdeckte; außerdem konnte ich wegen meiner Übelkeit nicht sehen und stolperte immer wieder über die Böschungen, wobei mich ein einziger Gedanke beherrschte: Ich muß aus dieser Einöde herauskommen und den Wagen finden.
Ich hielt mich an einem dornigen Strauch fest, um nicht abzurutschen; zu meinen Füßen sah ich zahllose leere Konservenbüchsen, ein altes Bettgestell, einen Autoreifen und wieder Efeu und Stechpalmenbüsche. In meine Glieder war das Gefühl zurückgekehrt, aber während ich den Hang hinauftaumelte, nahmen Schwindel und Übelkeit zu; ich rutschte in die nächste Grube, blieb keuchend liegen und übergab mich. Danach fühlte ich mich für einen Augenblick erleichtert, stand auf und kletterte weiter. Jetzt sah ich, daß ich nur wenige hundert Meter von der Hecke entfernt war, neben der ich meine Zigarette geraucht hatte. Vorhin hatten die Böschung und ein halb zerfallenes Tor mir den Blick auf Hügel und Steinbruch verborgen. Ich sah noch einmal ins Tal hinab. Dann kroch ich durch ein Loch in der Hecke und ging über das Feld hinauf zum Wagen.
Als ich die Ausweichstelle erreichte, packte mich erneut Übelkeit. Ich taumelte zur Seite, zwischen Balken und Zementhaufen, während Himmel und Erde sich um mich drehten. Der Schwindelanfall am ersten Tag im Innenhof war nichts im Vergleich zu diesem, und als ich mich niederkauerte und wartete, bis es vorüberging, sagte ich unaufhörlich zu mir selbst: »Nie wieder … nie wieder«, mit aller Inbrunst und dem schwachen Ärger eines Menschen, der aus einer Narkose erwacht, von Ekel überwältigt.
Bevor ich zusammenbrach, hatte ich undeutlich wahrgenommen, daß an der Ausweichstelle ein anderer Wagen neben meinem stand, und als Übelkeit und Schwindel endlich nachließen – es schien mir eine Ewigkeit zu dauern – und ich hustete und mir die
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