Ein Tropfen Zeit
hinauswagen. Ob Sir Oliver bei ihr ist oder nicht – und ich bezweifle es –, sie muß diese Nachricht unbedingt erhalten.«
Der Junge sprang auf sein Pony und jagte über das Feld, aber in östlicher Richtung, an unserer Seite des Tales entlang, und ich erinnerte mich, daß Roger gesagt hatte, die Furt sei wegen der Sturmflut nicht passierbar. So mußte er den Fluß wohl weiter oben im Tal überqueren, wenn Tregest auf der anderen Seite lag. Der Name sagte mir nichts. Auf der heutigen Landkarte war Tregest nicht eingezeichnet.
Roger ging hinaus zum Hang über der Bucht. Hier wehte der Wind ihn fast um, aber er kämpfte sich im strömenden Regen zum Fluß vor und schlug den holprigen Pfad ein, der zum Kai nach unten führte. Sein Gesicht war angstvoll, ja verstört, ganz anders als seine sonst so beherrschte Miene, und während er hinunterlief, blickte er immer wieder zum Fluß hinüber, dorthin, wo dieser in die weite Bucht einmündete. Wieder beschlich mich eine dunkle Ahnung, wie damals, als ich vom Ausflug über die Bucht zurückkehrte, und ich spürte, daß auch Roger sie empfand. Uns verband eine gemeinsame Angst und Unruhe.
Am Kai war es wegen der Hügel hinter uns ein wenig geschützter, aber der Fluß war aufgewühlt; kurze, steile Wellen jagten sich und trugen auf dem Kamm herbstliches Strandgut mit, grüne Zweige, Baumstämme und Seegras, die zum Kai hintrieben, während ein Schwarm schreiender Möwen mit ausgestreckten Flügeln gegen den Wind ankämpfte.
Wir entdeckten das Schiff wohl gleichzeitig, da wir unverwandt aufs Meer hinausblickten; aber es war nicht mehr das tüchtige Schiff, das ich an einem Sommernachmittag bewundert hatte, als es vor Anker lag. Es schwankte wie betrunken, mit gebrochenem Mast, die Rahen hingen auf Deck, und die Segel fielen schlaff herab wie Leichentücher. Das Ruder war offensichtlich gebrochen, denn das Schiff schaukelte ziellos, dem Sturm und der Flut preisgegeben, mit der Breitseite voran, und der Bug war den Sandbänken zugewandt, auf denen die Wogen sich brachen. Ich konnte nicht sehen, wie viele Männer sich an Bord befanden, aber es waren zumindest drei. Sie mühten sich, ein kleines Boot vom Deck herabzulassen, aber das Gefährt hatte sich in dem Gewirr von Segeln und Rahen verfangen. Roger hielt die hohlen Hände vor den Mund und rief, aber die Männer konnten ihn im Sturmgeheul nicht hören. Er sprang auf die Kaimauer und winkte mit den Armen, bis einer der Seeleute – es war gewiß Otto Bodrugan – ihn sah; er winkte ebenfalls und deutete auf das Ufer.
»An diese Seite vom Kanal!« schrie Roger, »hierher!« Aber seine Stimme verlor sich im Wind. Sie hörten ihn nicht, denn sie waren immer noch mit dem Boot beschäftigt.
Bodrugan kannte den Kanal gewiß gut, und wenn sie das kleinere Boot seeklar machten, konnten sie leicht ans Ufer gelangen, trotz der Sturzwellen, die sich an den Sandbänken zu beiden Seiten brachen. Es war nicht wie das mit Felsen durchsetzte, gefährliche offene Meer, und obwohl der Fluß dort, wo das Schiff hintrieb, am breitesten war, konnte es schlimmstenfalls auf Grund laufen, und dann mußte man die Ebbe abwarten.
Plötzlich wurde mir klar, warum Roger sich so besorgt zeigte und bemüht war, Bodrugan und seine Leute an unsere Uferseite zu lenken. Drüben auf dem Hügel kam eine Reiterschar heran, etwa zwölf Mann stark. Sie war jedoch hinter einer Baumgruppe auf der Anhöhe verborgen, und die Männer an Bord bemerkten sie nicht.
Roger schrie und winkte unaufhörlich, aber die anderen meinten offensichtlich, er wolle sie mit seinen Gebärden ermuntern, und erwiderten mit ähnlichen Gesten.
Als das Schiff in den Kanal hineintrieb, gelang es ihnen, das Beiboot an einer Seite herabzulassen, und gleich darauf sprangen alle drei Männer hinein. Sie hatten am Bug des Schiffes und am Heck des Beibootes ein Tau befestigt, und während zwei der Männer sich über die Ruder beugten, kauerte der dritte, Bodrugan, am Heck und hielt das Tau, um das Schiff in die gleiche Richtung zu ziehen.
Sie waren völlig in ihre Arbeit vertieft, so daß sie Roger nicht mehr beachteten, und während sie sich langsam der Küste näherten, sah ich, wie die Reiter auf dem Hügel hinter der Baumgruppe von den Pferden stiegen. Sie machten sich die Deckung zunutze und krochen zur Bucht hin, wo der Boden steil herabfiel und eine sandige Landzunge bildete. Roger schrie noch einmal und winkte verzweifelt mit den Armen, und ich vergaß, daß ich nur ein
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