Ein Tropfen Zeit
schliefen – Roger, Isolda und Bodrugan waren seit über sechshundert Jahren tot. Ich war wieder in meiner Zeit …
Ich ging durch die Hintertür ins Haus und stellte das Fläschchen fort. Inzwischen war es ganz hell geworden, aber im Haus herrschte noch Stille. Ich schlich die Treppe hinauf in die Küche und setzte Wasser auf, um mir Tee zu machen. Eine dampfende Tasse Tee, das würde mir guttun. Das Summen des Kessels klang seltsam tröstlich. Ich setzte mich an den Tisch, und plötzlich fiel mir ein, wie viel wir alle am vergangenen Abend getrunken hatten. Die Küche roch noch nach dem Hummer, den wir verzehrt hatten; ich stand auf und öffnete das Fenster.
Während ich bereits die zweite Tasse Tee schlürfte, hörte ich die Treppe knarren und wollte eben hinunterlaufen und mich verstecken, als die Tür sich öffnete und Bill hereintrat. Er grinste blöde. »Hallo«, sagte er, »zwei Seelen, ein Gedanke. Ich wachte auf, meinte einen Wagen zu hören und bekam plötzlich schrecklichen Durst. Ist das Tee, was du da trinkst?«
»Ja«, sagte ich, »du kannst auch eine Tasse haben. Ist Diana schon wach?«
»Nein«, antwortete er, »und wie ich meine Frau kenne, wird sie nach einer Zecherei auch nicht so bald zu sich kommen. Wir hatten allesamt ganz schön geladen, nicht wahr? Aber du hast uns doch nichts übelgenommen?«
»Nein.«
Ich goß ihm eine Tasse Tee ein, und er setzte sich an den Tisch. Er sah schlimm aus, und sein blaßrosa Schlafanzug paßte nicht zu seiner grauen Hautfarbe.
»Du bist angezogen«, sagte er. »Bist du schon lange auf?«
»Ja, ich war sogar draußen – ich konnte nicht schlafen.«
»Dann hörte ich also deinen Wagen die Auffahrt herauffahren?«
»Sicher«, sagte ich.
Der Tee tat mir wohl, aber er wirkte auch schweißtreibend. Ich spürte, wie mir der Schweiß über das Gesicht lief.
»Du siehst ein bißchen abgespannt aus«, bemerkte er kritisch. »Ist dir nicht gut?«
Ich zog mein Taschentuch heraus und wischte mir die Stirn ab. Wieder begann mein Herz schwer zu klopfen. Das mußte der Tee sein.
»Um die Wahrheit zu sagen«, antwortete ich, und ich hörte, wie ich die Worte undeutlich stammelte, als wäre der Tee starker Alkohol gewesen, der mich auf einmal aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, »ich war unbemerkter Zeuge eines schrecklichen Verbrechens. Ich kann es einfach nicht vergessen.«
Er setzte seine Tasse ab und starrte mich an. »Was in aller Welt …« fing er an.
»Ich hatte das Gefühl, daß ich frische Luft brauchte«, sagte ich rasch, »darum fuhr ich an einen Ort etwa drei Meilen fort und nahe der Bucht, und dort sah ich, wie ein Schiff strandete. Es ging ein sehr starker Sturm, und der Mann an Bord mußte mit seiner Mannschaft in ein Beiboot steigen. Sie kamen auch ans andere Ufer, und dann passierte diese furchtbare Sache …« Ich goß mir noch eine Tasse Tee ein, wobei meine Hände zitterten. »Diese Mörderbande, diese verdammte Mörderbande am anderen Ufer – der Mann aus dem Boot kam nicht gegen sie auf. Sie haben ihn nicht erstochen, sie hielten einfach seinen Kopf unter Wasser, so daß er ertrank.« – »Mein Gott!« sagte Bill. »Mein Gott, wie schrecklich! Bist du auch sicher?«
»Ja«, antwortete ich, »ich habe es selbst gesehen. Ich sah, wie der arme Kerl ertrank.« Ich stand auf und ging in der Küche hin und her.
»Und was willst du tun?« fragte er. »Wäre es nicht besser, wenn du die Polizei anriefest?«
»Die Polizei? Das geht die Polizei nichts an. Ich denke vielmehr an den Sohn des Ermordeten. Er ist krank, und jemand muß ihm und seinen Verwandten Bescheid sagen.«
»Aber Dick, es ist deine Pflicht, die Polizei zu verständigen! Ich begreife, daß du dich aus der Sache heraushalten möchtest, aber dies ist doch Mord! Und du sagst, du kennt den Mann, der ertränkt wurde, und seinen Sohn?«
Ich starrte ihn an, dann schob ich meine Teetasse beiseite. Es war also passiert, großer Gott, es war passiert. Die Verwirrung. Die Verwechslung der beiden Welten … Schweiß rann mir über den ganzen Körper.
»Nein«, sagte ich, »ich kenne ihn nicht persönlich. Ich habe ihn mal gesehen. Er hatte drüben in der Bucht seine Jacht liegen, auch habe ich gehört, wie die Leute von seiner Familie redeten. Du hast recht, ich will nicht in die Sache hineingezogen werden. Und außerdem war ich nicht der einzige Zeuge. Es hat noch jemand zugesehen, und ich bin überzeugt, der wird es melden – das heißt, er hat es sicher schon
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