Ein Tropfen Zeit
nervöser sein können als ich jetzt; ich zog mich ganz auf meine Seite des Bettes zurück und gähnte unentwegt, zum Zeichen, daß ich von Müdigkeit geradezu überwältigt wurde. Wir schalteten die Nachttischlampen aus; ich führte so etwas wie eine Pantomime auf und atmete schwer, als sei ich bereits halb eingeschlafen. Ich weiß nicht, ob Vita sich dadurch täuschen ließ, aber nachdem sie ein oder zweimal versucht hatte, sich an mich zu schmiegen, worauf ich nicht reagierte, rollte sie auf ihre Seite hinüber und schlief bald.
Ich lag wach und nahm mir vor, Magnus die Hölle heiß zu machen, wenn er kam. Übelkeit, Schwindel, Gedankenverwirrung, ein blutunterlaufenes Auge und jetzt auch noch der säuerliche Schweiß – wofür das alles? Ein kurzer Ausschnitt aus einer längst vergangenen Zeit, der keinen Einfluß mehr auf die Gegenwart hatte, in seinem oder meinem Leben keinen Zweck erfüllte und der Welt, in der wir lebten, ebenso wenig nützen konnte wie ein Buch mit vergessenen Erinnerungen in einer verstaubten Schublade. So argumentierte ich bis Mitternacht und darüber hinaus, denn die Vernunft läßt uns gewöhnlich im Stich, wenn der Dämon der Schlaflosigkeit uns in den frühen Morgenstunden heimsucht. Während ich dalag und es auf dem leuchtenden Zifferblatt des Reiseweckers neben dem Bett zwei und dann drei Uhr werden sah, fiel mir ein, wie ich mich in jener anderen Welt mit nachtwandlerischer Sicherheit und der Wahrnehmungsgabe eines völlig Wachen bewegt hatte. Roger war kein verblichener Schnappschuß aus dem Album der Zeit; und selbst jetzt, in dieser ›vierten Dimension‹, in die ich versehentlich hineingeraten war, während Magnus sie absichtlich aufsuchte, lebte und rührte er sich, aß und schlief er unter mir in diesem Haus Kylmerth, und sein Leben vollzog sich in meiner unmittelbaren Gegenwart, so daß beide miteinander verschmolzen.
Bin ich denn meines Bruders Hüter? Kains Protestschrei vor Gott gewann plötzlich für mich neue Bedeutung, während ich zusah, wie der Uhrzeiger auf zehn nach drei rückte. Roger war mein Hüter und ich der seinige. Es gab keine Vergangenheit, keine Gegenwart, keine Zukunft. Alles Lebendige ist ein Teil des Ganzen. Wir alle sind durch Zeit und Ewigkeit miteinander verbunden, und es würde keine Trennung mehr geben, keinen Tod … Hier lag gewiß die entscheidende Bedeutung des Experiments: Der Tod war aufgehoben, da man sich in der Zeit bewegte. Das hatte Magnus noch nicht begriffen. Ihm diente die Droge nur dazu, irgendeine Substanz im Hirn freizusetzen, die die gelebte Vergangenheit aufspeichert. Mir bewies sie, daß die Vergangenheit noch lebte, daß wir alle an ihr teilhatten, alle Zeugen waren. Ich war Roger, ich war Bodrugan, ich war Kain – und dadurch zugleich ich selbst.
Als ich einschlief, hatte ich das Gefühl, einer ungeheuren Entdeckung entgegenzugehen.
15
Ich wachte erst nach zehn Uhr auf, als Vita mir das Tablett mit Toast und Kaffee ans Bett brachte.
»Nanu«, sagte ich, »ich muß verschlafen haben.«
»Ja.« Sie musterte mich kritisch. »Wie fühlst du dich?«
Ich richtete mich auf. »Ausgezeichnet. Warum?«
»Du warst in der Nacht unruhig und hast stark geschwitzt. Sieh mal, deine Pyjamajacke ist immer noch feucht.«
Sie hatte recht; ich zog die Jacke aus. »Seltsam«, sagte ich. »Sei so gut und hol mir ein Handtuch.«
Sie brachte mir eins aus dem Badezimmer, und ich rieb mich ab, bevor ich mich über das Frühstück hermachte.
»Das muß etwas mit dem Marsch am Strand zu tun haben«, meinte ich.
»Das glaube ich nicht«, antwortete sie, wobei sie mich verwundert anstarrte. »Außerdem hast du hinterher gebadet. Du hast doch früher nie nach sportlichen Betätigungen so geschwitzt!«
»Nun, irgendwann passiert es dann doch. Vermutlich eine Alterserscheinung. Vielleicht gibt es auch beim Mann so etwas wie Wechseljahre, und sie überfallen mich schon jetzt.«
»Ich hoffe nicht. Wie unangenehm.«
Sie ging zum Ankleidetisch und betrachtete sich im Spiegel, als könnte sie dort die Lösung des Problems finden. »Merkwürdig«, fuhr sie fort, »Diana und mir fiel auf, daß du trotz der Sonnenbräune nicht gut aussiehst.« Plötzlich drehte sie sich um und sah mich an. »Du mußt doch selbst zugeben, daß du nicht hundertprozentig in Form bist. Ich weiß nicht, was es ist, Liebling, aber es bedrückt mich. Du bist launisch und zerstreut, als hättest du die ganze Zeit etwas auf dem Herzen. Und dann dein blutunterlaufenes
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