Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
daß ich da gewisse Selbstzweifel aus Ihren Zeilen heraushöre? Anbei ein Foto von mir, aber ich war damals
jünger und schlanker. Ich schreibe diesen Brief, weil ich heute keinen guten Tag hatte und es mir nicht im Traum einfallen würde, auf irgendeine der anderen zu antworten. Um ehrlich zu sein, ich habe so etwas noch nie gemacht. Wie auch immer, meine Attribute scheinen nicht das zu sein, was die Leute erwarten.
Ich habe eine gute Stellung, aber ich habe immer schwer gearbeitet, und deshalb glaube ich, daß ich sie verdient habe. Ich halte nichts von Leuten, die in Selbstmitleid zerfließen und meinen, die Welt schulde ihnen etwas. Ich habe einmal einen Mann sehr geliebt, aber er starb. Er konnte beim Fahren sehr gut die Reifen quietschen lassen und solche Sachen. Ich war auch einmal verheiratet, aber nicht sehr lange. Ich versuche, kein Miesepeter zu sein. Sie reißen nicht die ganze Zeit Witze, oder? Wir haben im Chor einen Tenor, der das macht, aber keiner findet sie lustig. Es ist sehr peinlich. Der Mann, mit dem ich gegangen bin, meinte, es ist schlimmer, ein Miesepeter zu sein, und auch wenn das stimmt, kann es ziemlich unpassend sein bei einem Menschen, bei dem alles in Ordnung ist und der die richtige Größe und die richtige Figur hat und nicht im Sterben liegt. Wie er es damals war. Er hat nie nach Mitleid gesucht. Ich kenne eigentlich gar keine Witze. Er hat mir eine ganze Menge erzählt, aber ich habe sie alle vergessen, das ist das Problem, auch wenn ich mir auf meinen Humor etwas einbilde. Mein Arzt sagt, daß bei mir alles in Ordnung ist, und ich nehme nie irgendwelche Pillen. Mein Hauptinteresse ist die klassische Musik, vor allem Gesang, und ich singe Sopran, aber nur in einem Chor. Ich wähle die Konservativen.
Mit freundlichen Grüßen
Chiffre 927
PS: Ich bin diejenige mit dem Fahrrad.
Sie lehnte in der Mitte des Fotos an einem Zaun und hielt ein Männerfahrrad auf Armeslänge von sich weg. Seitlich von ihr stand im Profil eine zweite Frau, die die Augen mit der flachen
Hand beschirmte und in die Ferne schaute, vielleicht hoch zu einem Flugzeug. Ihr Gesicht war so nicht zu erkennen, ihre Figur dafür um so besser. Es war ein Sommertag, denn beide trugen dünne Kleidchen, und ihre Schultern waren nackt. Die Frau mit dem Fahrrad hatte den Mund offen, doch sie lachte nicht, sondern trug nur eine Fröhlichkeit zur Schau, die sie nicht empfand. Ich hielt mir das Foto an die Nase, es roch nach Lavendel. Aus dieser Nähe betrachtet, wurde das Gesicht unbekümmert und die Fröhlichkeit echt, doch als ich es dann wieder weiter weghielt, schien das Lachen nur den Zweck zu haben, die Aufmerksamkeit auf die Trägerin zu lenken, ein eigentlich ziemlich netter Kerl, der daran gewöhnt war, übersehen zu werden. Vielleicht hatte der Witz etwas mit dem Meer zu tun, denn jetzt erkannte ich, daß die Hütte im Hintergrund eine Umkleidekabine und der Zaun ein Wellenbrecher war. Ich schaute mir noch einmal das Gesicht an, die dunklen Haare, die darüber wehten, aber ich konnte nicht sagen, ob es hübsch war. Ihr Busen war unübersehbar groß – offensichtlich wollte sie, daß mir das auffiel –, und sie hatte ein Knie über das andere gelegt, als wollte sie sich da unten schmaler machen und nicht zuviel von ihren Beinen zeigen. Aber warum hielt sie das Fahrrad so von sich weg? Weil sie wußte, daß der Körper der anderen Frau, so wie sie posierte und sich zur Schau stellte, das Kleid vom Wind eng angedrückt, das eigentliche Zentrum des Fotos war, und sie nur als Kontrast fungierte, unvollkommen und plump und eben dabei zu lernen, sich darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.
Ich erhielt auch noch andere Antworten. Sie waren alle ziemlich sachlich, und die beigefügten Fotos wirkten wie Paßfotos und ließen der Phantasie wenig Spielraum. Sie sahen alle hilflos und begierig aus, aber voller Freundlichkeit. Ich überlegte mir, wie es für diese Frauen wohl war, ihre Fotos wahllos durch die Gegend zu schicken, um sie von völlig Fremden betrachten und dann mit Maßstäben bewerten zu lassen, die so hoch und so unregelmäßig waren wie eine Bergkette – von ihren eigenen Wünschen ganz zu schweigen –, nur damit sie selbst grinsend auf Abruf bereitstehen
konnten wie chancenlose Kandidatinnen bei einem Schönheitswettbewerb. Sie alle hatten eine ordentliche Handschrift, und ihre Briefe hatten offensichtlich mehrere Entwürfe hinter sich, denn jede hatte sich große Mühe gegeben, zu gefallen
Weitere Kostenlose Bücher