Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
Gebetskissen. Auf einer
Tafel über der Kanzel waren drei Lieder angezeigt. Ich schlug das erste auf: »Der Tag, den du uns schenktest, Herr, neigt sich dem Ende zu.« Ich ging zurück zum Lesepult, schlug im Alten Testament eine mit einem langen, weißen, seidenen Lesebändchen markierte Seite auf und las: »Herr, wer darf Gast sein in deinem Zelte? Wer darf weilen auf deinem heiligen Berge?« Dann las ich den ganzen Psalm laut, aber mit meiner gewöhnlichen Sprechstimme. (»Sprechen Sie doch ein bißchen lauter, Tom, wenn Sie so freundlich wären«, sagte Plaskett bei Vorstandssitzungen häufig zu mir, wenn ich seine Argumente für ihn präsentierte, wie ich es immer tat.) In dieser Leere war meine Stimme jedoch sehr deutlich hörbar, und hin und wieder hob ich den Kopf und schaute nach, ob ich auch wirklich allein war.
Ich war nur einige wenige Male mit meinem Vater in der Kirche gewesen, aber es fiel mir nicht schwer, mir Gesichter vorzustellen, die mit verschämter, aber ehrbarer Absicht zu mir hochstarrten, so daß, alles in allem genommen, ihre individuelle Sündhaftigkeit zu nichts Schlimmerem wurde als durchschnittliche Unzulänglichkeit oder eben ein wenig Pech. Nachdem ich meine Rezitation beendet hatte, schaute ich mir das Dach gründlich an und ging dann draußen einmal um die Kirche herum, fand aber nichts, weswegen ich den Vikar hätte anrufen müssen. Ich ging noch einmal hinein und steckte einen Fünfer in die Spendenbüchse des Renovierungsfonds. Die Kirche schien bereit zu sein für eine Wiederbelebung des Glaubens, und ich dachte, ich wäre dann ganz gern dabei (vor allem, wenn es nicht mehr zu meinen Lebzeiten passierte) und würde die Leute sitzen oder knien oder ihre Stimme erheben sehen, so daß es schien, als würde ich dazugehören, auch wenn das, worum es auch immer ging, nie zu mir gehören konnte.
Danach schlenderte ich über den Friedhof. Die Grabsteine waren alle ein bißchen windschief und mit Moos und Flechten überwachsen. Sie erzählten niemandem mehr etwas. Keine neuen Gräber, aber wie auch in anderen Friedhöfen, an denen ich vorbeigefahren war, noch genügend freie Plätze. Irgend jemand hielt ihn in Ordnung, und obwohl der Winter noch nicht ganz vorüber war, hing der Geruch von frisch gemähtem Gras in der Luft. Hier
und dort standen ein paar Eiben, die an einigen Stellen gestutzt werden mußten, aber nicht viel. Spatzen hüpften herum und auch ein paar farbenfrohere Vögel von derselben Größe. Als ich die Augen schloß, hörte ich, wie laut sie alle zwitscherten. Dann setzte ein richtiger Gesang ein, von dem ich inzwischen weiß, daß er von einer Amsel kam. Ein anderer Vogel nahm ihn auf, aber anders, prächtiger – eine Drossel? Über mir kreisten Krähen, offensichtlich von irgend etwas aufgeschreckt. Nicht mehr lange, und es würde wieder April sein. Ich schaute hinaus auf die flachen Felder. In der einen Richtung sah ich einen langsam dahinzuckelnden Traktor, in einer anderen einige Kühe, die in einer Gruppe zusammenstanden, und etwas abseits ein Pferd, das über einen Zaun schaute. Ich schnupperte nach dem Gestank der Schweinefarm auf der anderen Seite des Waldstücks neben dem Feld, auf dem der Traktor fuhr. Aber der Wind war nur schwach und kam aus der anderen Richtung. Kurz befiel mich die Vorstellung, der Rasen sei abgetragen und die Erde neben den Gräbern aufgehäuft worden, als würde die Zeit sich gegen ihren Lauf erheben, und die Knochen lägen entblößt da in einem Gewimmel aus Würmern und Insekten. Dann schaute ich noch einmal zu dem Pferd hinüber, das noch immer an derselben Stelle stand, nur die Kühe schienen noch näher zusammengerückt zu sein.
Da nichts Neues die Landschaft veränderte, schaute ich zum Himmel hoch, wo die Hauptmasse der Wolken, schleierig dünn und nur mit einem Hauch Schwarz darin, sich langsam der Sonne näherte. Auch da oben nicht viel Wind. Ein ausgefranster Vorläufer hatte sie bereits erreicht, und ein schwacher Schatten glitt über den Friedhof, das Sonnenlicht wie eine Schleppe hinter sich herziehend. Ich dachte an das alte Taufbecken und wünschte mir, ich könnte mein Leben noch einmal leben, wie man es tut, wenn man dieses winzige Stückchen weiter von den Toten entfernt sein will. Reine Gier natürlich, und wer sagt, daß ich beim zweiten Mal ein unverdorbeneres Leben führen würde, vielleicht allerdings mit einer anderen Bandbreite guter Absichten. Wenn eine zweite Chance bedeuten würde, daß aus
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