Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
Marias Mutter mich plötzlich am Arm, und wir blieben stehen, um Mrs. Bradecki allein weitergehen zu lassen. Sie drehte sich nicht um. Zuerst wurden ihre Schritte langsamer, doch dann eilte sie so schnell voran, daß sie beinahe gestolpert wäre. Der Griff um meinen Arm wurde fester, und Marias Mutter führte mich zu einer
Bank. Dann deutete sie zur Statue und sagte: »Jetzt lassen wir sie allein.«
Unter der Statue stand eine große, kräftige, mürrisch dreinblickende Frau, die sich nervös umschaute. Mit den unter der Brust verschränkten Armen vermittelte sie den Eindruck einer lange geübten Strenge, die jetzt, da sie unsicher und aus dem Konzept gebracht war, zu reiner Sturheit wurde. Sie bemerkte Mrs. Bradecki erst, als sie nur noch ein paar Schritte entfernt war, und dann standen die beiden sich gegenüber wie Herrin und Dienerin. Ich hatte den Eindruck, daß lange Zeit kein einziges Wort gewechselt wurde, und dann deutete die Frau an der Statue vorbei zu den Bäumen, und die beiden gingen nebeneinander auf einem Pfad in den Park hinein. Meine Begleiterin stand auf, nickte mir zu, und wir folgten den beiden in einem gewissen Abstand.
Plötzlich schien die Stadt sehr weit weg zu sein. Es gab nur die vielen, eben sprießenden Bäume, das grüne Unterholz und die langen, sanft steigenden und fallenden Wege und flanierende Erwachsene und Kinder und Hunde, dann einige alt aussehende Gebäude, die meine Begleiterin mir erläuterte: ein Schloß, eine Orangerie mit Statuen darin, ein kleiner Tempel und dann ein Garten, in dem die Rosen eben anfingen zu knospen. Es war ein warmer, blauer Tag, nur hin und wieder wehte ein scharfer Windstoß, der noch an den Winter erinnerte. Wir gingen abwechselnd durch Sonnenlicht und Baumschatten und blieben hin und wieder stehen, um ein Eichhörnchen oder einen Vogel zu beobachten. Lange sprachen wir kaum etwas, oder, genauer, ich hörte zu, wenn sie, von langen Pausen unterbrochen, mir von dem Park erzählte und den Schußwechseln, die früher hier stattgefunden und die Bäume verletzt hatten.
»Bald«, sagte sie, »stehen sie wieder voll im Laub, und dann können wir wieder vergessen. Allmählich wissen wir gar nicht mehr, wieviel wir schon vergessen haben.«
Auf einer Wasserfläche gegenüber dem Schloß kamen Enten und ein paar Schwäne zusammen, um sich füttern zu lassen, und ein Schwarm Möwen kreischte laut und ging ganz allgemein auf die Nerven. Hier hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt,
vorwiegend Familien, die nicht viel redeten, bevor sie weitergingen und sich zwischen den Bäumen zerstreuten, mal im Licht, mal im Schatten. Es war, wie ich es in meinen Träumen vor so vielen Jahren gesehen hatte, ernst und schattenlos, als wäre die Zeit stehengeblieben, da nun die ersten Blätter die Bäume sprenkelten und die Sonne hindurchschien und auf der Erde und dem Gras lag, als wäre das Licht in ihnen. Vögel flatterten umher, und hier und dort waren Blumen zu sehen, Narzissen und Butterblumen und Goldregen, auch einige Veilchen und Gänseblümchen. Die feuchten, braunen Blätter des vergangenen Jahres klebten im Unterholz und an den Wegrändern, wurden zu Stein und Erde und lösten das Licht auf. Obwohl alles sich Jahr um Jahr änderte und nichts je dasselbe war, keine Blume, kein Blatt, war doch alles so, wie es immer gewesen war, die alten Leute, die, nachdenklich in Erinnerungen versunken, ein wenig frische Luft schöpften, Eltern und Kinder in einem ewigen Frühlingsanfang. Die Webbs und die Hambles und meine Familie waren mit mir dort, und die Kinder, die meine hätten sein können, bewegten sich von mir weg, wie sie es in meinem Traum getan hatten. Und trotz all dieser Zeitlosigkeit war die Anwesenheit eines jeden von uns an diesem Ort reiner Zufall, und wir hätten auch ganz andere Leute sein können, völlig verschiedene, und all diese anderen, unsichtbaren Menschen in ihrer Vielzahl waren ebenfalls dort.
Wir verloren die beiden Frauen zwar nicht aus den Augen, hielten aber einen sehr großen Abstand. Sie schauten sich nie nach uns um. Und Marias Mutter fing an, mir von ihnen zu erzählen. Die Frau hieß Mrs. Konopka, und sie und Mrs. Bradecki kannten sich seit ihrer Kindheit. Ihre Eltern waren in Treblinka umgekommen. Sie sagte, kurz nach dem Krieg sei ein Buch veröffentlicht worden, in dem jüdische Kinder berichteten, was ihnen widerfahren war. Mrs. Konopkas Geschichte sei nicht aufgenommen worden, und viele Jahre später habe sie Marias Mutter gebeten,
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