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Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Titel: Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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weinen, aber es waren nur Schlieren auf dem Glas. Meine Finger, die ihre Haut berührt hatten, fühlten sich eiskalt an.
     
    Marias Mutter erkannte uns sofort. Sie war eine große, streng wirkende Frau, und sie schien sehr nervös zu sein, als sie uns, halb Polnisch, halb Englisch sprechend, durch die Menge führte. Ein junger Mann half uns mit dem Gepäck, bis wir beim Taxi waren, verschwand aber dann. Hinter mir im Taxi sprach Marias Mutter sehr schnell, als wollte sie Mrs. Bradecki über sehr viel Geschichte in einer sehr kurzen Zeit auf den neuesten Stand bringen. Ein-oder zweimal drehte ich mich um und sah, wie Mrs. Bradecki sich die Stadt anschaute, die Gebäude wie Baracken in unterschiedlichen Stadien der Verrußtheit, die eben knospenden Bäume an den Bürgersteigen wie lustlos hingepflanzt, um sie zu verstecken. Sooft ich mich umschaute, lächelte Marias Mutter mich schüchtern an, als hätte Maria sie vor mir gewarnt. Und dann erhob sich riesig der Kulturpalast vor uns, dem neuen, gläsernen Marriott Hotel direkt
gegenüber, so daß die beiden wirkten wie zwei gigantische Monumente, die einander auf einem Schlachtfeld die Stirn boten. Die Innenstadt war mit Reklametafeln zugepflastert, als würde hier ein Werbekongreß stattfinden, der außer Kontrolle geraten war. Es gab sogar eine rosalackierte Straßenbahn, die für Barbie-Puppen warb. Überall an den Straßen und um den Palast herum waren Stände, die billige Waren verkauften, und zwischen ihnen wimmelten die Leute herum, als hätte man ihnen eine Einkaufstour befohlen, die sie nun schwer enttäuschte. Wir fuhren an Häusern vorbei, die aussahen, als hätte man die Arbeit an ihnen schon vor langer Zeit eingestellt, und ihre bröckelnd graue Eintönigkeit wurde nur hier und dort aufgehellt von Ladenschildern, die wirkten wie aus zweiter Hand oder zu hastig überpinselt. Und überall eilten die Leute durch die Straßen, als gehörte die Umgebung überhaupt nicht zu ihnen, als hätte der Zufall sie aus ihrem wahren Leben woanders hierherverschlagen. Alles wurde dominiert von dem Palast, die Säulen am Sockel erinnerten an klassische Zeiten, die zinnenbewehrten Einzeltürme wuchsen sich verjüngend in die Höhe und wurden gekrönt von einer zwiebelförmigen Kuppel und obendrauf einem Antennenmast, auf dem ebenfalls eine Werbung prangte; für Digital, als könnte man die neuen Segnungen des digitalen Zeitalters hier gar nicht hoch genug hängen. Ich stellte mir unsere bescheidene, kleine Kirche in Suffolk vor, mit einer Heineken-Werbung auf dem Turm und dem Slogan: »Der Biergenuß für Himmelsstürmer.«
    Plötzlich sagte die Frau zu mir: »Wie eine riesige, schmutzige Hochzeitstorte, nicht? Die Russen früher wie Götter da oben, jetzt sind sie ganz unten und verkaufen Plunder. Kapitalismus ist Verkehrsstaus und Sex-Shops und Werbung und die Mafia und daß jeder will, was er nicht haben kann. Er ist besser als Sozialismus, oder, Mr. Ripple?«
    »Wenn ich das nur wüßte«, sagte ich, »Sehr schön ist er auf jeden Fall nicht.«
    »Jetzt sehen Sie gleich die Altstadt«, sagte sie. »Die konnten wir schön machen.«
    Wir fuhren eine attraktive Straße hinunter zu dem rostfarbenen
Schloß, von dem ich gelesen hatte, und dann stiegen wir aus und gingen durch eine schmale Straße zum alten Marktplatz. Mrs. Bradecki kam nicht mit. Die Frau erzählte, daß das gesamte Areal, ja eigentlich alles, was ich bis jetzt gesehen hatte, nach dem Krieg wiederaufgebaut worden war. Ich entgegnete ihr, wie alle Touristen es müssen, das sei kaum zu glauben. Es war ein ruhiger Frühlingsabend, und die Leute schlenderten umher, als wäre hier nie etwas von großer Bedeutung passiert, und zwar schon seit Hunderten von Jahren. Später besuchte ich das Museum auf dem Platz und sah die Stadt, wie sie am Ende des Kriegs war, völlig zerstört, und danach kam es mir so vor, als wären die Leute eben aus einem schrecklichen Traum aufgewacht, würden sich nun in irgendeinem pittoresken Film wiederfinden und wüßten nicht so recht, ob sie noch immer träumten. Die hohen, unterschiedlich getünchten und verzierten Gebäude erstrahlten im Sonnenlicht, und ich wandte mich der Frau zu und fragte: »Würde Mrs. Bradecki das nicht auch gern sehen?«
    »Ich weiß nicht, was sie sehen will«, antwortete sie.
    Sie hatte ihre Nervosität verloren, und jetzt sah ich, wie sehr sie ihrer Tochter ähnlich war, die offenen, weit auseinanderstehenden Augen und das zurückhaltende Lächeln. Und doch

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