Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
die beiden sich unter und gingen langsam zur Bahnstrecke und standen mitten auf dem Gleis und schauten in die Ferne, wo die Schwellen zwischen den Tannen verschwanden. Dann drehten sie sich um und trennten sich voneinander und gingen schnell zum Eingang und schauten nicht zurück, um zu sehen, ob wir ihnen folgten. Als sie an dem Denkmal vorbei waren, blieb Mr. Bradecki stehen und starrte es noch ein letztes Mal an. Sah sie
nun ihre Eltern, wie sie sie ihr ganzes Leben lang gesehen hatte, nur jetzt viel klarer und deutlicher, nackt und zu Tode verängstigt, und hörte sie die Stimmen, die Schreie, zwei in einer Unzahl? Ich weiß es nicht, aber als wir uns ihr näherten, stieg ihr Blick über uns hinweg und wanderte langsam über den ganzen Himmel und dann hinüber zur flachen Linie der Baumspitzen. Es war ein Ausdruck, den ich nicht beschreiben kann, so als wäre die Maske der Trauer hinweggefegt worden von der kühlen Frühlingsluft in der Stille dieses Ortes, und sie würde in diesem Augenblick zu der jungen Frau, die sie nie gewesen war, böte sich dar der Ewigkeit leerer, blauer Himmel, die die Welt überspannten, entschlossen, illusionslos, unendlich einsam. Und sie war weiter entfernt von mir denn je, als hätte die Geschichte sie vereinnahmt, und sie stand da als Zeugin all dessen, was hätte sein können und nie wiederhergestellt werden konnte. Ich kann nur sagen, daß sie verändert war und nun von nichts und niemandem mehr abhängig zu sein schien.
Wir kamen zu ihr, und sie zeigte keine Überraschung. »Jetzt gehen wir nach Hause«, sagte sie. Sie hatte es forsch wie einen Befehl gesagt, und dann ging sie uns voraus und sagte etwas auf polnisch. Ich fragte Maria, was es gewesen sei.
»Sie hat gesagt, daß sie jeden Tag ihres Lebens hiergewesen ist und daß es jeden Tag passiert.«
»Tut es Ihnen leid, daß Sie mitgekommen sind?« fragte ich sie, denn seit unserer Ankunft hatte sie gelangweilt und desinteressiert gewirkt.
»Für Sie ist es doch dasselbe. Es sind andere Menschen, andere Zeiten. In der Geschichte gibt es viele schreckliche Dinge wie diese. Wir müssen zuhören, wie sie weinen, sagt meine Mutter.«
»Wir denken allerdings nicht sehr oft darüber nach, oder? Wir wissen nicht, wie, und wenn wir es wüßten, dann würden wir es nicht unbedingt wollen, nicht? Wie können wir sonst mit unserem Leben weitermachen? Unserem lächerlichen, geschäftigen, kleinen Leben.«
»Sie sagen, wir sind nicht so sonderlich wichtig.« Sie seufzte. »Ich habe es nur getan, damit ich anfangen kann, meine Eltern wieder zu lieben.«
»Ich weiß nicht. Bis uns selber etwas Schreckliches passiert.« Jetzt plapperte ich einfach.
Wieder schaute sie gelangweilt und eilte ein paar Schritte vor mir her zum Parkplatz. Ich blieb am Kiosk stehen und kaufte mir einen Führer. Die Frauen warteten am Auto, und ich schaute nicht in ihre Gesichter, als ich ihnen die Tür aufhielt. Bevor ich losfuhr, schaute ich in den Rückspiegel und sah, daß Mrs. Konopka zu weinen angefangen hatte. Ihr strenges, offizielles, an Lügen und Autorität gewohntes Gesicht hatte den Kampf aufgegeben. Ihre Augen waren zusammengekniffen, und ihr Mund klaffte in einer Grimasse des Schmerzes, und dann beugte sie sich, mit einem Ächzen, das von tief drinnen zu kommen schien, vor, um ihr Gesicht vor mir zu verstecken, und suchte in ihrer goldbesetzten, schwarzen Lederhandtasche nach einem Taschentuch. Sie drückte es sich aufs Gesicht und in den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken, doch ihr ganzer Körper zitterte unkontrolliert.
»Ist es ... Wollen Sie ...?« stotterte ich.
Maria streckte die linke Hand aus und drehte den Zündschlüssel und bedeutete mir mit einem scharfen Nicken, ich solle endlich losfahren. Als wir die Straße durch den Wald erreichten, schaute ich noch einmal nach hinten und sah, daß Mrs. Bradecki sich zu ihrer Freundin beugte und ihr zuflüsterte, und ihre Hände fanden zueinander und blieben zwischen ihren Brüsten fest umklammert. Ich schaute Maria an, und wir lächelten einander zu, wie Fremde es tun, und wir wußten, wir mußten irgendeine Unterhaltung beginnen. So fragte ich sie nach ihrem Freund, und sie erzählte mir, er habe Architektur studiert und sei immer noch in Deutschland, daß sie gemeinsam ein Geschäft aufmachen wollten und bald ihre eigene Wohnung haben würden. Er wolle Möbel entwerfen, und sie hätten einen Freund mit einer Werkstatt. Sie zog ein Foto aus ihrer Handtasche, und er sah blendend
Weitere Kostenlose Bücher