Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
irgend jemandem bekam,
wenn überhaupt. Sie lächelte zurück, glücklich, sogar dankbar. Ich hatte sie von der zehrenden Monotonie ihres Lebens abgelenkt; ach, daß so wenig nötig ist, um das zu tun, dachte ich mir, was für ein wunderbarer, selbstbeherrschter, freier Geist könnte sie sein, wenn man sie nicht davon abhielte. Im eigenen Leben an die Seite gedrängt, wie’s im Gedicht heißt. Sehr weit an die Seite, wirklich sehr, sehr weit.
Ich dachte eben an Rosie, dann Jane, dann Adrian, dann Maureen und auch an andere, die alle kamen und gingen wie Besucher, die sich von mir verabschiedeten, als ich plötzlich merkte, daß ich eine Kirche erreicht hatte. Während ich das Schild draußen las, erklang drinnen eine Orgel, und ein Lied wurde angestimmt. Es war das Lied, das ich auf dem Weg zum Bahnhof gehört hatte an dem Tag, als ich meinen Vater zum letzten Mal im Krankenhaus besuchte. Ich erinnerte mich, wie er dalag und seine Hand sich unter meiner unter der Decke bewegte, und an das Gefühl, es sei das erste Mal in meinem Leben, daß er mit mir allein sprach, ohne die hemmende Anwesenheit meiner Mutter. In seinem Sterben hatte er eine Beredtheit an den Tag gelegt, die ich nie zuvor bei ihm erlebt hatte — daß alles in Millionen Teilchen von ihm davonsause, daß der Vikar Jesus kein einziges Mal erwähnt habe, daß meine Mutter ihm nie Blumen bringe, was ihn nur daran erinnerte, daß er sie einst draußen in der Erde sah, wohin sie auch gehörten, da wieder einmal Frühling und Sommer vor der Tür standen. Und so begann der Gesang: »Der Kirche einzig Fundament ist Jesus Christus unser Herr ...« Ich erinnerte mich, daß mein Vater am Ende gesagt hatte, wie sehr er herzhaftes Singen genossen habe, es habe ihn wenigstens zeitweilig von seinem Leben erlöst — das und die Sehnsucht nach Sonnenlicht auf windgepeitschtem Meer.
Ich ging hinein und stellte mich an die Rückwand. Es war keine große Gemeinde, siebzig Leute vielleicht, auf jeden Fall beinahe genug, um dem Lied einen überzeugenden Klang zu geben. Das war größtenteils das Verdienst einer Frauenstimme über den anderen, die, so hatte es den Anschein, zusammen mit der breiigen Orgel von ihr mitgeschleift wurden. Es war eine Stimme von großer
Reinheit ohne das geringste Schwanken oder Zittern. Sogar ich hörte, wie gut sie war.
Ich sah meinen Vater unter ihnen, wie er die Worte mitbellte, meine Mutter, wie sie ihn hin und wieder stirnrunzelnd anschaute, vielleicht, weil er falsch sang. Sie selbst sang nie. Sie stand einfach da und starrte vor sich hin, den Mund zusammengekniffen, als wollte sie sich davon abhalten, irgendeinen Unsinn herauszulassen. Ich hörte sie nie singen, nicht einmal summen, und glaubte, sie könne es einfach nicht. Wir gingen selten in die Kirche, und danach sprach man auch nicht darüber. Mein Vater hatte betreten gewirkt, daß er sich so hatte hinreißen lassen. Und ich hatte mich geschämt, wenn ich an die Köpfe dachte, die sich umdrehten, um nachzusehen, wer da so laut sang. Nur mir zuliebe, sagte mein Vater einmal, würden wir überhaupt gehen. »Das ist gut für den Jungen. Die Musik und die Texte. Er muß das kennenlernen.« »Solange es nur darum geht«, hatte meine Mutter erwidert. Sie ging ihm, nicht mir zuliebe. Denn sie schaute ihn nicht immer nur mißbilligend an. Ich erinnerte mich, wie glücklich es mich machte, wenn sie ihn mit einem halben Lächeln anschaute, weil es sie freute, daß er das Singen so genoß. Sie lächelte auch fast, als sie meinen Vater dabei ertappte, wie er sich seine alte Kathleen-Ferrier-Platte anhörte: »Mein kleines Knisterding«, nannte er sie. »Ich glaube, ich habe morgen mal wieder Lust auf Kirche«, pflegte er zu sagen. Sie protestierte nie. »Dann sollte ich wohl besser deinen Anzug bügeln«, war alles, was sie erwiderte.
Als ich mir die versammelte Gemeinde anschaute, stach mir ziemlich weit vorn ein Farbklecks ins Auge. Nach ein paar verstohlenen Schritten in den Seitengang hinein erkannte ich, daß es Mrs. Hirsts gemeuchelter Vogel war. Sie sang ziemlich kraftvoll, so daß es beinahe aussah, als wollte der Vogel abheben. Dann sah ich etwa auf halber Höhe der Bankreihen die Frau aus Nummer 27 mit ihrer Tochter. Die Frau hatte den Kopf über das Gesangbuch gebeugt und schien überhaupt nicht zu singen. Ihre Tochter stand halb verdeckt neben ihr, aber plötzlich lehnte sie sich mit hoch erhobenem Kopf zurück, und ich erkannte, daß es ihre Stimme war, die so kräftig
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