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Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Titel: Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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Predigt wollte ich gehen, doch in diesem Augenblick war plötzlich etwa in der Mitte der Kirche ein lautes Schniefen zu hören, und dann gab es Unruhe in dieser Reihe, denn vier oder fünf Leute standen auf, um die Frau aus Nummer 27 mit ihrer Tochter hinauszulassen. Sie eilten den Mittelgang herunter, und die Frau hatte ihrer Tochter den Arm um die Schultern gelegt. Sie drückte sich ein Taschentuch ans Gesicht, und aus dem Schniefen war ein Schluchzen geworden. Kurz vor der Tür sah mich die Frau. Einen Augenblick lang dachte ich, sie flehe mich um Hilfe an, und ich stand auf. Doch dann waren sie verschwunden. Ich folgte ihnen zur Tür und sah, wie sie fast im Laufschritt durchs Kirchhofstor und die Straße hinuntereilten. Aus dem Schluchzen war ein unaufhörliches Weinen geworden. Als ich das Tor erreichte, sah ich sie in ihr Auto einsteigen, und das Aufheulen des Motors und das Knirschen der Gänge übertönte den Anfang des letzten Lieds, »Lobe den König der Himmel, meine Seele«. Es war das Lieblingslied meines Vaters, das er manchmal im Laden summte, wenn ein Kunde gegangen war und die Ladenglocke wie ein Echo des Kassenbimmelns klang. Er wirkte dann immer ungewöhnlich glücklich, vielleicht weil er ungewöhnlich viel verkauft hatte oder eine Schuld beglichen worden war oder weil der Kunde einer derjenigen gewesen war, die er einfach nicht ausstehen konnte. Aber es machte mich auch traurig, weil ich wußte, wie gern er in der Kirche laut hinausbellte, wie sehr er herzhaftes Singen genoß.
     
    So machte ich mich auf den Rückweg. Das letzte Lied verklang langsam, und nun lag kein Lob mehr darin, die hohe, klare Stimme war nicht mehr da, um den Rest zu führen. Als ich unsere Straße erreichte, sah ich das Auto vor Nummer 27 stehen, doch ich merkte, es waren nicht die Frau und ihre Tochter, an die ich dachte, auch nicht meine Eltern oder Jane, sondern die Worte des Sündenbekenntnisses. Alle Vorhänge in Nummer 27 waren zugezogen, und es war, als wäre dort drinnen jemand gestorben. John Brown ging mir durch den Kopf, und ich schwor mir laut, ihn noch an diesem Abend anzurufen. Ich spazierte die Straße
bis zum Ende entlang, weil ich mein Haus einfach nicht betreten konnte. Ich hatte mich noch nie so gefühlt, so unvorbereitet auf die lähmende Stille, die ich dort vorfinden würde, als wäre mein ganzes Leben in lauter Nippes zersplittert und meine Leiche läge oben, von einem Laken bedeckt, auf den Bestatter wartend. Religion hat eine ganze Menge zu verantworten, murmelte ich, wenn sie so etwas mit einem anstellt.
    Ich wollte eben umkehren, als Rosie mit ihren Hunden und Kindern, die jetzt alle weinten, um die Ecke bog. Sie starrte leer vor sich hin, und ich vermutete, daß sie ebenfalls geweint hatte. Vor Erschöpfung machte sie nicht einmal mehr den Versuch, ihre Kinder zum Schweigen zu bringen. Als sie mich erreichte, sagte sie: »Na, klasse ...«
    »Mal wieder so ein Tag, wie’s aussieht«, sagte ich.
    »Das können Sie laut sagen.« Dann riß ihr der Geduldsfaden, und sie schrie, so laut sie konnte: »O Mann, jetzt haltet doch endlich mal den Rand!«
    Das brachte einen der Hunde dazu, nach meinem Knöchel zu schnappen. »Wie war’s?« fragte ich und schaute an ihrem Gesicht vorbei, das die Wut und die Röte um ihre Augen häßlich gemacht hatten.
    Sie fing laut an, doch mit jedem Wort wurde ihre Stimme leiser, bis sie nur noch flüsterte. »Wollen Sie das wirklich wissen, Professor? Er war sturzbesoffen. Seine neue Schlampe war da, die aufgedonnerte Kuh. So besoffen wie er. Fünf Minuten hat er uns gegeben. Die Kinder haben angefangen zu weinen. Und wissen Sie, was?«
    »Nein, weiß ich nicht.«
    »Dumme Frage. Keinen einzigen Penny hat er mir gegeben, nicht einmal genug für ein Eis am Stiel oder ein Päckchen Hundefutter. Wozu gibt’s denn das Sozialamt, meinte er. Vor der Schlampe konnte er ja schlecht, nicht?«
    »Tut mir leid ...«
    »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich? Sollte mich lieber auf den Weg machen. War schön, mit Ihnen zu reden. Ich meine, danke fürs Zuhören.«

    Sie schien es wirklich ernst zu meinen. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie irgendwas ...«
    Sie warf mir einen Seitenblick zu, in dem die Dankbarkeit schon wieder völlig überlagert war von der mechanischen Leere. Nein, es war genau andersherum. Die einzigen freundlichen Worte, die sie die ganze Woche gehört hatte.
     
    Und so machte ich meinen Schwur wahr und rief noch am selben Abend John Brown an. Seine

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