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Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Titel: Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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über den anderen erklang. Es kam mir
merkwürdig vor, daß offensichtlich niemand sie so anschaute, wie man es früher bei meinem Vater getan hatte. Abgesehen von dem fast flüggen Vogel und der Mutter der jungen Frau starrten alle entschlossen vor sich hin, die Gesangbücher hoch erhoben, als würden sie gleich anfangen zu marschieren. Das Lied war zu Ende, aber die Gemeinde schien sich nicht gleich setzen zu wollen. Jetzt war der Vikar an der Reihe.
    Ich konnte ihn nicht sehr gut sehen, aber er wirkte in keiner Weise jung genug, um sich mit der Frau des Organisten oder sonst jemandem einen Fehltritt geleistet zu haben. Den Organisten konnte ich sehr deutlich sehen. Er wirkte nicht nur jung genug, sagen wir vierzehneinhalb, um der Urgroßenkel des Vikars zu sein, er schaute ihn auch mit einer erwartungsvollen Zuneigung an, wie man seinen Urgroßvater anschauen mag, wenn man stolz darauf ist, daß er noch immer ohne Hilfe gehen kann. Ganz offensichtlich hatte der anstößige Vikar die Gemeinde verlassen, und das könnte auch der Grund dafür sein, warum so etwas wie jubilierende Erleichterung in der Art mitgeschwungen hatte, wie die Gemeinde über der Kirche einziges Fundament, die mystische Vereinigung und dergleichen gesungen hatte. Es war eine eher ältere Gemeinde, die sicher nicht lange in dieser Kirche bliebe, wenn irgend jemand anfangen würde, Gitarren an den Altar zu lehnen, geschweige denn, darauf zu sitzen. Ich drückte mich weiter im Hintergrund herum und schaute mir den Rest der Gemeinde an, um nachzusehen, ob ich sonst noch jemand erkannte. Der verletzte Vogel schien den Abflug geschafft zu haben. Von der Frau und ihrer Tochter konnte ich nur die Spitzen ihrer Köpfe sehen.
    Die Gemeinde kniete sich nun hin, und ich fand einen Stuhl etwas abseits hinter einer Säule. Da ich nicht hören konnte, was der Vikar sagte, oder nur hin und wieder durch Rascheln und Hüsteln hindurch, blätterte ich das Gesangbuch nach ein paar Lieblingsliedern meines Vaters durch. Mein Blick fiel auf »Lobe den König der Himmel, meine Seele«, dann auf »Komme herab, o göttliche Liebe«.
    Plötzlich sah ich ihn sehr deutlich vor mir, sein teilweise rasiertes Kinn, seinen Mund mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen,
der normalerweise so klein wirkte, als wäre er im Lauf der Jahre geschrumpft, weil mein Vater nie seine Meinung sagte, jetzt aber groß und rund und berstend vor Selbstsicherheit. Ich fing an, im Gebetbuch zu blättern. Mein Vater hatte mich den Gottesdienst darin mitlesen lassen, war die betreffenden Zeilen mit dem Finger entlanggefahren und hatte gesagt: »Das ist eine Sprache für dich, Tom, das ist wirkliche Sprache.« Und plötzlich wurde mir die Stimme des Vikars bewußt, die krächzte und pausierte, als wollte sie eine atemlose, alte Frau nachahmen. Das Hüsteln hatte aufgehört, als würde sich jeder beherrschen, um mitzubekommen, was er sagte. Die Worte waren dieselben, die ich gerade anstarrte: »... alle, die ihr hier anwesend seid, mit reinem Herzen und demütiger Stimme zum Throne der himmlischen Gnade zu begleiten und mir nachzusprechen.«
    Nun füllte sich die Kirche mit einem brummenden Gemurmel, als alle nachsprachen, was der Vikar ihnen vorsprach — viel lauter und sicherer als eben noch, so als müßte er auch für die in der Gemeinde sprechen, die nicht selbst den Mund aufmachen wollten. Den Kopf des Organisten, den dieser sehr tief auf die Brust gesenkt hatte, konnte ich gerade noch erkennen. »... Wir sind zu sehr den Plänen und Wünschen unserer Herzen gefolgt ... Wir haben unterlassen, was wir tun sollten, und getan, was wir unterlassen sollten, und es ist nichts Heiles an uns ...«
    Wieder sah und hörte ich meinen Vater, wie er diese Worte sagte, und damals konnte ich einfach nicht verstehen, wie ein so sanfter und behutsamer Mensch irgend etwas Falsches getan oder etwas Richtiges unterlassen haben könnte — abgesehen von der Buchhaltung des letzten Monats, und das war doch mit Sicherheit nicht genug, um sich selbst einen elenden Sünder zu nennen. Meine Mutter blieb stumm und hielt den Kopf hoch erhoben, so daß jeder, der ein Interesse daran hatte, die Augen zu öffnen, sehen könnte, daß ihr an alledem überhaupt nichts lag. Dies schien mir genau so, wie es sein sollte, denn was könnte auch sie Falsches getan oder Richtiges unterlassen haben? Als wir einmal schweigend nach dem Gottesdienst nach Hause gingen, sagte meine Mutter zu mir vor einem Laden, der Eiscreme

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