Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
oder andere ganz gern schmecken und ganz allgemein nicht hungrig sein wollen. Es wäre schön zu wissen, ob diese Leute bereit sind, die Denkzeit, die sie ansonsten aufs Essen verwenden würden, für die Ernährung des Verstands zu nutzen oder für die Suche nach anderen Wegen zur Zivilisation — indem sie Philosophie lesen zum Beispiel oder in Konzerte gehen oder ihren Mitmenschen helfen. Nicht übers Essen nachzudenken sollte ein Schlüssel zur Freiheit sein. Ich habe keine Ahnung, ob diejenigen, die viel Zeit mit Nachdenken übers Essen verbringen, zivilisierter sind als diejenigen, die es nicht tun. Wie gesagt, das ist so, weil man nicht wissen kann, was sie ansonsten denken würden, um die Lücke zu füllen, oder was sie sonst tun würden — wie etwa Leute bedienen außer an ihren eigenen Eßzimmertischen. Vielleicht denken diejenigen, die überhaupt nicht über Essen nachdenken, daß das eins der vielen Dinge ist, was andere Leute mit so großem Vergnügen tun, ihnen aber entgeht — wirklich schade, aber sie haben anderes zu tun in ihrer Freizeit, was allerdings nicht unbedingt zivilisierter sein muß, vielleicht völlig unzivilisiert ist. Wohingegen Leute, die viel über Essen nachdenken, den Eindruck vermitteln, als glaubten sie, daß ihnen überhaupt nichts entgeht, daß das Essen so wichtig ist wie alles andere im Leben oder sogar noch wichtiger, daß es etwas ist, von dem man nie genug haben oder den Appetit dafür verlieren sollte. Kurz gesagt, das Thema Essen muß wirklich sehr gründlich durchgekaut werden. Manchmal wird’s jedoch übertrieben. Und vieles davon erweist sich als Blödsinn. Wenn man darüber nachdenkt.)
»Die gute, alte Delia«, sagte ich.
Das Essen war wirklich so außerordentlich, daß es schweigend genossen werden mußte, was mir die Zeit gab, einige der eben erwähnten Gedanken zu wälzen. Ausschlaggebend ist, daß zumindest bei diesem Anlaß das Essen so wichtig und so zivilisierend
war wie selten; und daß Mrs. Brown so stolz darauf war und auch Brown selbst, machte es nur noch wichtiger. Hier wurde ein ganzes Leben neu aufgebaut. Eine Heimkehr wurde gefeiert. Das Lächeln auf ihrem Gesicht zwischen dem Kauen und Schlucken war wie ein Spiegelbild des Lächelns auf seinem. Sogar Simon genoß es und sagte zweimal: »Klasse, Mum!« Vorwiegend kippte er jedoch mehrere Gläser Wein und redete weiter über seine Wohnung, wobei sich jetzt immer mehr die erste Person Plural einschlich. Er bestritt fast das gesamte Gespräch, da er als einziger nichts dagegen hatte, mit vollem Mund zu reden. Das war schon okay. Der Anlaß galt ja ihm.
»Vor ein paar Tagen haben wir die Teppiche bestellt. Ist eigentlich ziemlich erstaunlich. Sally und ich haben einen sehr ähnlichen Geschmack.«
»Ach, Sally heißt sie also«, sagte Brown jovial. »Du hast wohl nicht vor, deinen alten Eltern was von ihr zu erzählen?«
»Wird schon kommen, alles zu seiner Zeit«, sagte seine Mutter leise und schaute ihn stolz an, als er ihr seinen Teller für eine zweite Portion hinhielt.
Nun fing er an, von ihr zu erzählen, daß sie in einer Arbeitsagentur arbeite, daß sie aus Darlington komme, daß ihr Vater bei einer Gasfirma beschäftigt sei, daß ihr Hobby Schlittschuhlaufen sei, daß sie eine Lehrerausbildung abgebrochen habe, daß sie einen jüngeren Bruder habe, der sich nur für Fußball interessiere, aber dennoch ein gutes Abitur gemacht habe. Er sprach sehr besitzergreifend von ihr, aber ohne große Begeisterung oder auch Zuneigung. Ich sah deutlich, wie sehr seine Mutter hoffte, daß er gleich ein Foto von ihr aus der Tasche ziehen würde.
»Wir sind aber nicht verlobt oder so«, sagte er schließlich.
»Ist nicht mehr modern, so was«, sagte Brown. »Deine Mutter und ich, wir waren sechs Monate lang verlobt. Ging ja alles noch sehr ehrbar zu damals. Das kann ich dir sagen. Dieses Zusammenleben ohne Trauschein gab’s damals noch nicht, das war undenkbar. Heb’s dir auf, hieß die Botschaft damals. Ich holte sie immer zur Mittagszeit im Laden ab, und dann gingen wir in ein Cafe um die Ecke und ...«
»Ich glaube nicht, daß Simon oder Mr. Ripple sich sonderlich für unsere Zeit der jungen Liebe interessieren, Johnny«, sagte sie.
»Vielleicht. Vielleicht nicht. Wie war’s bei Ihnen, Ripple?«
»Ziemlich genauso ...«, setzte ich an.
Obwohl es nicht so gewesen war, da doch meine frühere Frau, wie bereits erzählt, eine große Anhängerin der damals modernsten Ideen über bürgerliche
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