Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
nicht mehr weitermachen.
»Ich gehe dann mal«, sagte ich. »Danken Sie ihr, wenn Sie so ...«
Er hob die Hand über den Kopf und ging. Ich schaute ins Eßzimmer hinüber. Sie waren noch immer so wie zuvor, aber jetzt war ein gemurmeltes Gespräch zu hören. Erst als ich an der Haustür war, wurde mir klar, daß ich zu Fuß nach Hause gehen mußte und keinen Mantel dabei hatte.
Als ich die Tür öffnete und den kalten Lufthauch spürte, kam er hinter mir her und sagte: »Tut mir leid, alter Freund. So behandelt man seine Gäste nicht. Total unverschämt eigentlich. Sie vor Dessert und Käse hinauswerfen.«
Er hatte sich wieder unter Kontrolle, und ich drückte ihm kurz den Ellbogen. Er zwinkerte mir zu, als wollte er sagen: »Kein Wort zu ...«
»Ich würde gern eine ganze Menge sagen«, murmelte ich. »Na ja, es war doch ganz okay, nicht, außer was meine Anwesenheit anging? Ich meine ... ich meine, daß am Ende alles gut wird ...«
»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf, alter Mann. Vergessen Sie es einfach. Wissen Sie, was ich meine? Einige Dinge muß man für sich selber sprechen lassen, wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen.«
»Wie auch immer, noch mal danke. Und wirklich ...«
»Ich sagte, kein Kopfzerbrechen deswegen.«
Er lächelte mir breit zu und klopfte mir auf den Arm. »Auch Ihnen danke, alter Junge.«
Ich ging bereits den Gartenpfad entlang, als er mir nachrief: »Ich werde Sie schnell heimfahren.«
»Danke, aber nein. Der Spaziergang wird mir guttun.«
Ich winkte und ging. Das kam überhaupt nicht in Frage. Er brauchte alle Zeit, die er mit seiner Familie verbringen konnte. Simon würde bald nach Sheffield, zu seiner Freundin und seinem Job zurückkehren müssen. Sie mußten soviel Zeit wie irgend möglich miteinander verbringen. Sie hatten viel zu besprechen oder nun gar nicht mehr das Bedürfnis danach, wie es auch der Fall sein kann.
Die Luft war kühl, und ich hatte zu wenig an, mußte mich deshalb beeilen. Es war Vollmond, und ein paar Wolken zogen vor ihm vorbei wie zerknitterte Laken. Sie erinnerten mich an dieses reinweiße Tischtuch im Kerzenlicht, das jetzt vielleicht schon wieder zusammengelegt oder in den Wäschekorb gesteckt worden war. Es war dieses Bild — das und der Kopf des jungen Mannes auf dem Schoß seiner Mutter, der Stolz und die Schüchternheit auf Browns Gesicht beim Abschied, das aufwendige Essen, das ja eigentlich noch gar nicht zu Ende war, es waren all die Dinge, die ich gedacht hatte — diese und andere Erinnerungen verhinderten jede Schlußfolgerung, die ich vielleicht hätte ziehen können.
Bei diesen Schlußfolgerungen bin ich noch immer. Ich schreibe dies mehrere Abende später, aber ich bin noch nicht weiter als bei dem vagen Gedanken, wie wenig, wie unglaublich wenig wir doch über andere Leute wissen, geschweige denn sie verstehen können. Wie banal das ist. Ich habe mich ein bißchen über die Gedanken zu den Kochprogrammen, die ich zu der Zeit hatte, ausgelassen, aber nicht sehr ausführlich — so weit sind unsere Gedanken von dem entfernt, was vor unseren Augen passiert. Es kann sein, daß jedes Leben, wenn man sich nur intensiv genug damit beschäftigt, zu einem ganzen Buch werden kann. Aber wie tief und wie weit man dabei auch gehen mag, es würde nie ausreichend wahr sein. Es würde sich immer so anfühlen, als wäre noch mehr zu wissen,
mehr vorzustellen. Das ist genau der Punkt, wo die Vorstellungskraft in Büchern einen großen Vorteil besitzt. Sie kann entscheiden, was man über die Leute wissen sollte, die sie erschafft. Darüber hinaus braucht es keine Nachforschungen zu geben. Im wirklichen Leben dagegen fängt die Wahrheit an diesem Punkt erst an und entfaltet sich unendlich. Bis zum Ende ist es voller Kummer und Leiden, die man nicht kennt, und auch voll von dem, was erst bevorsteht. Neugier auf lebendige Menschen läßt sich nicht zwischen zwei Buchdeckel zwängen. Nichts kann erfunden werden. Wohin man auch schaut, gibt es dieses Universum unterschiedlichsten Lebens, das nie ganz gekannt werden kann. Romane sind eigentlich eine große Erleichterung, wobei ich nicht sehr viele gelesen habe. Es heißt, sie sind eine Flucht. Nun gut. Daran ist nichts verkehrt. Die Wirklichkeit ist da, damit man vor ihr flieht, so kommt es mir zumindest meistens vor. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man es anstellt, einen Roman zu schreiben, wie man Leute erfindet und ihnen Grenzen auferlegt. Wobei es unwichtig ist,
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