Ein unbeschreibliches Gefuehl
Haushälterin Helene Demuth, die aus Jennys Vaterhaus stammte und seit der Hochzeit bei den Marxens lebte und arbeitete, gebar einen Sohn. Henry Frederick Demuth sah Marx zum Verwechseln ähnlich, trotzdem übernahm Friedrich Engels Jahre später offiziell die Vaterschaft. Frederick wuchs in einer Pflegefamilie auf. Er wurde Büchsenmacher und begründete die Labourpartei in seinem Heimatbezirk Hackney mit. Zu seiner Mutter behielt er Kontakt. Als sie nach Marx’ Tod Friedrich Engels den Haushalt führte, besuchte er sie öfter in der dortigen Küche. Wer sein wirklicher Vater war, hat Frederick wohl nie erfahren.
Helene Demuth starb 1890, neun Jahre nach Jenny. Auf deren Wunsch wurde sie im Familiengrab der Familie Marx beigesetzt. Wer von allen Beteiligten hat wohl in dieser komplizierten Beziehungskonstellation wie viel oder wie wenig in Besitzkategorien gedacht?
Und noch etwas zeigt diese Geschichte: dass Frauen, solange sie materiell nicht auf eigenen Füßen standen, automatisch Gefahr liefen, eine Art »Besitz« der Männer zu sein. Erst die zweite Frauenbewegung, die um 1970 begann, hat daran wirklich etwas geändert.
Das Tagebuch des Verführers
V orsicht, meine schöne Unbekannte! Vorsicht; aus einer Kutsche zu treten, ist keine so leichte Sache, zuweilen ein entscheidender Schritt!« Mit dieser Warnung beginnt eine raffiniert verschlüsselte, eine doppelbödige Geschichte. Ihr Zweck ist es, eine junge Frau in Kopenhagen von der Verworfenheit des Verfassers zu überzeugen – und doch auch wieder nicht. Zu kompliziert? Es war kompliziert, das Innenleben des Søren Aabye Kierkegaard.
1813 in Kopenhagen als Sohn eines wohlhabenden und frommen Wollwarenhändlers geboren, trug Søren als Schüler den Spitznamen Socken-Søren. Zeitlebens empfand er sich, wohl zu Recht, als sehr schwermütig. Er litt darunter und löste nicht zuletzt deshalb 1841 seine Verlobung mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen. Dabei spielten eventuell auch Schuldgefühle wegen eines lange zurückliegenden Bordellbesuchs eine Rolle, bei dem aber wohl gar nichts geschehen war. Jedenfalls: Um Regine die Trennung leichter zu machen, stellte dieser Kierkegaard sich als Frauenheld dar. Dem Zweck diente auch das fiktive »Tagebuch des Verführers«, das 1843 als Teil seines ersten großen Werkes »Entweder – Oder« erschien.
Der »Verführer«, ein junger Mann namens Johannes (angelehnt an Don Juan), berichtet in seinem Tagebuch davon, wie er in einem willkürlich ausgewählten Mädchen namens Cordelia die Liebe entzündet. (Nebenbei: Regine Olsens Schwester hieß Cordelia.) Die beiden verloben sich schließlich, doch als er sie haben kann, erlischt Johannes’ Interesse an Cordelia. Er bringt sie dazu, die Verlobung wieder zu lösen und dabei noch anzunehmen, dies sei ihr freier Wille. Aber, so der fiktive Herausgeber des »Tagebuchs«: »Er war es, der durch seine Hinterlist diesen Plan in ihre Seele hineinlegte.« Dem vermeintlichen Tagebuch sind ebenso fiktive Briefe Cordelias beigefügt, die deren Leid erkennen lassen: »Johannes! Ich nenne Dich nicht: mein; das, ich erkenn es wohl, bist Du nie gewesen, und ich bin hart genug dafür gestraft, dass dieser Gedanke einmal meine Seele ergötzte; und doch nenne ich Dich: mein; meinen Verführer, meinen Betrüger, meinen Feind, meinen Mörder …«
Wie gefährlich erscheint hier die Liebe, als ein mörderisches Instrument in der Hand gewissenloser Menschen, die aber ebenso unglücklich sind wie ihre Opfer! Das kann auch nicht anders sein. Denn der Mensch, so Kierkegaard, ist eine Mischung aus Vergänglichem und Ewigem, und gerade das macht die Liebe so trügerisch. Die romantische Liebe suggeriert zwar, für die Ewigkeit zu sein, sie ist aber doch auf Vergänglichem aufgebaut und somit eine Illusion. Dagegen hilft nur eins: der Entschluss, der in der Heirat getroffen wird. »In der Verliebtheit wollen die Liebenden einander angehören auf ewig; im Entschluss beschließen sie, füreinander alles zu sein«, schreibt Kierkegaard 1845 in »Stadien auf des Lebens Weg«. Das erinnert ein wenig an Kants Hochschätzung der Ehe, ist aber doch ganz anders gemeint.
Den Schlüssel zum Verständnis Kierkegaards bildet der soeben gefallene Begriff des Entschlusses. Um den dreht sich bei dem Dänen alles. Und zwar um den Entschluss für eine von zwei Lebensweisen. Darauf weist auch der Titel des Werkes hin, als dessen Teil das »Tagebuch des Verführers« erschien: »Entweder – Oder«, das
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