Ein unbeschreibliches Gefuehl
absoluten Verzicht auf eigene Wünsche und Bedürfnisse erreicht werden kann. Und es versteht sich von selbst, dass Kierkegaard im etablierten, behördenähnlich organisierten Volkskirchentum das genaue Gegenteil des »Sprunges« erblickte …
Doch zurück zur ethischen Form der Liebe, die Kierkegaard in der Ehe verwirklicht sah und der er – als zum ethischen Stadium zugehörig – einen zumindest relativen Wert beimaß. Was kann uns dieses Konzept heute sagen, unabhängig davon, ob wir Kierkegaards dritten Schritt ins religiöse Stadium mitgehen würden oder nicht? Für den Dänen war, wie wir sahen, der Begriff der Entscheidung maßgeblich. Sich für einen Lebensentwurf zu entscheiden bedeutet, sich von der Vielzahl der Möglichkeiten zu verabschieden und eine verbindliche Wahl zu treffen. Es bedeutet, sich festzulegen. Kierkegaard betrachtet die bewusste Wahl als notwendigen Schritt auf dem Weg zur reifen Persönlichkeit. Ohne sie, so versichert er, bleibt unser Leben sinnlos.
Diese Gedanken sind durchaus auf unser heutiges Leben und Lieben anwendbar. Sich auf jemand anderen wirklich einzulassen, das fällt nicht wenigen Menschen schwer. Viel ist derzeit von Bindungsscheu die Rede, sie wird eher den Männern vorgeworfen, und auch der Geburtenrückgang wird mit ihr in Verbindung gebracht. Aber ist daran wirklich eine genussfixierte, hoch individualisierte »ästhetische Lebensweise« schuld, von der Kierkegaard sprach, oder nicht vielmehr die wachsende Unsicherheit in der globalisierten Welt, die es so schwer macht, dauerhafte Zukunftsperspektiven zu entwickeln? Umgekehrt besitzt die »Selbstverwirklichung«, ein Erbe des Existenzialismus im 20. Jahrhundert, ja einen ungebrochen hohen Status – wobei fraglich ist, ob dieses heutige Ideal das meint, was Kierkegaard sich darunter vorgestellt hat.
Im Folgenden daher einige Übersetzungsvorschläge: Statt der Wahl unserer selbst, von der Kierkegaard sprach, würden wir heute vielleicht eher von Authentizität sprechen, von Übereinstimmung mit uns selbst. Wir müssen einigermaßen in Einklang mit uns selbst leben, um zufrieden zu sein. Und die Entscheidung, die Kierkegaard forderte, könnte heute bedeuten, dass wir akzeptieren: Kein Leben verträgt die Realisierung aller Möglichkeiten, aber wichtig ist, dass wir Möglichkeiten ergreifen und das Beste aus ihnen machen. Bezogen auf die Liebe, wäre dann wohl nicht mehr unbedingt die Heirat der Maßstab der Entscheidungsfähigkeit. Stattdessen liegt der Begriff der Verbindlichkeit nahe. In »Verbindlichkeit« steckt das Wort »Bindung«. Verbindlich mit einem Menschen zu leben, das bedeutet, Verantwortung für den gemeinsam geschaffenen Beziehungsraum zu übernehmen und für alles, was daraus folgt. Es bedeutet, sich um den anderen zu sorgen und darum, dass es ihm gutgeht. Wieder findet sich bei Antoine de St. Exupéry ein schönes Bild: Jemanden zum Freund zu machen, so sagt der Fuchs zum kleinen Prinzen, das bedeutet, ihn zu zähmen und dann für ihn verantwortlich zu sein.
Kierkegaard selbst traute sich diese Verantwortung nicht zu. Aber er kam von Regine Olsen zeitlebens nicht los. Als sie sich mit einem anderen Mann verlobte und diesen nach mehrjähriger Verlobungszeit auch heiratete, war er gekränkt. Immer wieder kreuzten sich die Wege der beiden in Kopenhagen, doch er sprach sie nicht an. Als er starb – das stattliche väterliche Erbe war weitgehend aufgezehrt –, bedachte der Philosoph seine einstige Freundin in seinem Testament. Man weiß nicht, ob es besser für Regine ausgegangen wäre, wenn er sich im Leben für sie entschieden hätte. Aber schade ist es doch, dass Kierkegaard in seinem Glauben, für ihrer beider Glück die Verantwortung übernehmen und deshalb die Verlobung auflösen zu müssen, Regine so wenig in seine Entscheidung einbezog.
Sein Traum freilich, nachfolgenden Generationen etwas Wichtiges zu hinterlassen, ist in Erfüllung gegangen. Mit seiner Erkenntnis, dass uns unser Lebenssinn nicht vorgezeichnet ist, sondern dass wir ihn in der Entscheidung erst selbst schaffen, half er dem modernen Menschen, sich selbst zu verstehen. Er wurde damit zum Ahnvater der Existenzphilosophie. So gesehen, ist die Entscheidung dieses untypischen »Verführers« richtig gewesen.
Hingabe oder Besitzergreifung?
D u gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht.« Dieser Satz fällt meistens zuerst, wenn von Friedrich Nietzsche im Zusammenhang mit Liebe die Rede ist. Der Satz, der jegliche gute
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