Ein unbeschreibliches Gefuehl
sagt es schon: Hier geht es um eine Entscheidung, um eine Wahl. Genauer: um die Wahl zwischen zwei Lebensweisen. Auf der einen Seite steht die rein ästhetische, also auf unverbindlichem Genuss und lauter Möglichkeiten aufgebaute Lebensweise, sie ist diejenige des Verführers. Auf der anderen Seite steht die ethische Lebensweise. Wer sie wählt, der entscheidet sich verbindlich für einen Lebensentwurf und damit für sich selbst und handelt entsprechend: »… denn nur mich selbst kann ich absolut wählen, und diese absolute Wahl meiner selbst ist meine Freiheit, und nur indem ich mich selbst absolut gewählt habe, habe ich eine absolute Differenz gesetzt, die nämlich zwischen Gut und Böse.«
Die beiden Lebensweisen des Ästhetischen und des Ethischen stehen nach Kierkegaard für Entwicklungsstadien, die jeder Mensch durchlaufen soll. Aus der Unverbindlichkeit und dem Genuss der Möglichkeiten muss der Einzelne durch seine Entscheidung, durch die Wahl, in die Wirklichkeit hinaustreten. Nur indem er sich auf diese Weise mit der Realität konfrontiert, kann er zu einer echten Persönlichkeit werden. In der Situation der Wahl aber ist der Mensch ganz auf sich allein gestellt. Hegel sah das noch anders. Für ihn konnte der Einzelne sich als Teil und Werkzeug des Weltgeistes empfinden und auf diese Weise Halt bekommen. Kierkegaard hingegen spricht von der Erfahrung, sich selbst und der Welt fremd zu sein, und von der Angst, das eigene Leben zu verfehlen, nicht »man selbst zu sein«. Sein 1844 veröffentlichtes Buch »Der Begriff Angst« beschreibt die Angst: Sie stellt sich angesichts der unbegrenzten Wahlfreiheit ein, die im einen Moment als verunsicherndes Gewirr von Möglichkeiten erlebt werden kann und im nächsten schlicht als bodenloses Nichts. Wer aber angesichts dessen vor der Entscheidung flieht oder in Verzweiflung fällt, der ist von der »Krankheit zum Tode« ergriffen. So nannte Kierkegaard ein anderes, 1849 erschienenes Buch.
Dass die Liebe in solch einem Spannungsfeld jede Leichtigkeit verlieren muss, ist klar. Die liebende Entscheidung für einen anderen Menschen in der Ehe ist als Teil der ethischen Existenz mit einem solchen moralischen Gewicht beschwert, dass Johannes’ (und Sørens) Flucht vor ihr nicht weiter verwunderlich erscheint. Dennoch plädiert Kierkegaard unbedingt für die Ehe. Denn eine (zölibatäre, nicht libertinistische) Entscheidung gegen sie würde bedeuten, das Vergängliche zu übergehen, das eben auch Teil des menschlichen Daseins ist und sein Recht will. Diese Einseitigkeit wäre »auf die Länge der Zeit recht anstrengend« und überdies Ausdruck eines unglücklichen Daseins. Trotzdem hat Kierkegaard für sein eigenes Leben eben die ehelose Existenz gewählt. Nicht umsonst hat er den fiktiven Herausgeber von »Entweder – Oder« Victor Eremita genannt – »siegreicher Einsamer«. Mit 42 ist dieser »Einsame« an einem Schlaganfall gestorben, aufgezehrt von seinen inneren Kämpfen.
Verständlich wird seine Wahl der Ehelosigkeit vielleicht dann, wenn man den Fortgang von Kierkegaards Gedanken betrachtet. Diese enden nämlich nicht bei der Wertschätzung der Ehe. Denn auch eine höchst verantwortungsvoll geführte Ehe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in ihr um die – wenn auch ethisch geläuterte – Selbstsucht geht: Indem der menschlich Liebende auf Gegenliebe hofft, hofft er ja doch auf das eigene Glück. Deshalb steht für Kierkegaard die christliche Nächstenliebe letztlich doch noch höher als die vom Eigennutz der Beteiligten kontaminierte eheliche Liebe.
Aber das Dilemma ist damit nicht aus der Welt. Denn die christliche Liebe stellt ethische Ansprüche, die eigentlich unerfüllbar sind. Was tun? An dieser Stelle, so sagt Kierkegaard, bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als sich sein Elend einzugestehen und darauf zu hoffen, dass Gott ihn von sich aus liebt. Als Sohn eines strenggläubigen Lutheraners war Kierkegaard mit der Überzeugung aufgewachsen, dass der Glaube ein Geschenk Gottes ist, das nur im Wagnis des Sicheinlassens (im »Sprung«) erfahren werden kann.
Durch den »Sprung« erreicht der Mensch nach dem ästhetischen und dem ethischen das dritte Stadium. Es ist das religiöse Stadium und dadurch gekennzeichnet, dass Zeitlichkeit und Ewigkeit sich im Augenblick begegnen. Dies ist der von Kierkegaard angestrebte reifste Zustand. Er erinnert ein wenig an die mystischen Ideale des Mittelalters – auch darin, dass er nur durch den
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