Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
ich vor Lister geflohen bin, hat sie mir geholfen, wie man einer Freundin hilft, die in Not ist."
Alistair schien mit dieser Erklärung zufrieden zu sein. „Jedenfalls war Vale einer der Männer, die bei Spinner's Fall gefangen genommen wurden. Als Vale hier auftauchte, hat er mir eine seltsame Geschichte erzählt. Es soll Gerüchte geben, dass das 28. Infanterieregiment von einem Soldaten aus den eigenen Reihen verraten worden ist."
Helen fuhr zusammen. „Was?"
„Doch." Mit einem Achselzucken legte er das Hemd endlich beiseite. „Das würde so manches erklären. Wir waren tief in den Wäldern, als wir von einer vernichtenden Überzahl von Franzosen und Indianern überfallen wurden. Warum hätten sie ausgerechnet dort sein sollen, wenn sie nicht gewusst hätten, dass wir diese Route nehmen würden?"
Helen holte tief Luft. Zu wissen, dass die Vernichtung so vieler Leben geplant gewesen war — noch dazu von einem der ihren — machte alles noch entsetzlicher.
Doch etwas wunderte sie. Sie sah ihn an. „Man könnte meinen, dass du auf Rache sinnst."
Er lächelte traurig. „Selbst wenn wir den Mann finden, ihn vor Gericht und an den Galgen bringen, gibt mir das weder mein Auge zurück noch macht es die bei Spinner's Fall Gefallenen wieder lebendig."
„Nein, das nicht", gestand sie ein. „Aber du willst doch, dass man ihn fasst, oder? Würde dir das nicht einen gewissen Frieden bringen?"
Er sah zur Seite. „Ich glaube, meinen Frieden mit dem gemacht zu haben, was geschehen ist. Aber es wäre wohl angemessen, den Verräter seiner gerechten Strafe zuzuführen."
„Und dein französischer Freund hat mit all dem irgendwie zu tun?", vermutete sie.
Alistair trat an den Kamin, hielt einen Span in die Flammen und zündete ein paar Kerzen an. „Etienne meinte, es gebe in Kreisen der französischen Regierung Gerüchte, aber er will sie nicht einem Papier anvertrauen — sowohl seiner eigenen Sicherheit zuliebe als auch der meinen. Er hat eine Stelle auf einem Forschungsschiff angetreten, und eben dieses Schiff wird übermorgen in London vor Anker gehen, ehe es weiterfährt zum Horn von Afrika."
Er warf den heruntergebrannten Span ins Feuer. „Wenn ich mit Etienne reden kann, wird das Rätsel sich vielleicht lösen."
„Verstehe." Sie betrachtete ihn noch einen Augenblick, dann seufzte sie. „Möchtest du zum Essen nach unten gehen?"
Er blinzelte und sah sie an. „Ich hatte gehofft, wir lassen uns etwas nach oben bringen."
Sie begann ihr Korsett aufzuschnüren, und sogleich senkte sein Blick sich auf ihre Brüste. „Ich habe vorhin etwas Essen und Wein bringen lassen", sagte sie und deutete auf einen zugedeckten Korb, der auf einem der Stühle stand. „Da drüben. Wenn du meinst, das reicht, können wir hier bleiben und ungestört sein."
Er ging hinüber zu dem Korb, hob das Tuch und sah hinein. „Ein wahres Festmahl."
Helen zog das Oberteil ihres Unterkleides zurecht, stand auf und ging zu ihm. „Setz dich hier ans Feuer, ich bediene dich." Er schien irritiert. „Das brauchst du nicht."
„Als ich deine Haushälterin war, hattest du nichts dagegen einzuwenden." Sie suchte eine kleine Pflaume aus dem Korb heraus und hielt sie ihm auf ihrer ausgestreckten Hand hin. „Warum jetzt so bescheiden?"
Er nahm die Pflaume, streifte mit den Fingern die Innenfläche ihrer Hand, dass ihr wohlige Schauer über den Rücken liefen. „Weil du nicht mehr meine Bedienstete bist, du bist meine ..." Stumm schüttelte er den Kopf und biss in die Pflaume.
„Was?" Sie kniete zu seinen Füßen nieder. „Was bin ich für dich?"
Er schluckte und meinte barsch: „Weiß ich nicht."
Sie nickte und wandte sich wieder dem Korb zu, damit er nicht die Tränen in ihren Augen sah. Genau das war das Problem, nicht wahr? Dass sie nicht mehr wussten, was sie füreinander waren.
16. Kapitel
Wahrsprechers Worte ließen den Zauberer schäumen vor Wut. Er sprach einen Fluch und bannte den Soldaten in Stein. Dann stellte er Wahrsprecher zu all den anderen steinernen Kriegern in den Eibengarten. Da stand er nun, tagein, tagaus, über Monate hinweg, Jahre gar, während derer Vögel sich auf seinen Schultern niederließen und welke Blätter niederfielen zu seinen Füßen. Reglos, blicklos war sein Gesicht auf den Garten gerichtet, und niemand hätte zu sagen gewusst, was er wohl dachte. Auch seine Gedanken waren zu Stein geworden ...
Aus „Der Wahrsprecher"
H elen war nicht unbedingt das, was man ehrenwert nennen würde. Dieser
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