Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
den Kopf auf die Hand. „Ich habe dir meine Geheimnisse erzählt. Wäre es nicht an der Zeit, dass du mir die deinen erzählst?"
Ihn das zu fragen, war ein Wagnis, das sie sich nur traute, weil sie sich eben so innig geliebt hatten. Gut möglich, dass er sich trotzdem hinter der stillen Wut verschanzte, mit der er sie die ganze letzte Woche schon gequält hatte. Oder er würde einfach so tun, als wisse er nicht, wovon sie sprach.
Er tat weder das eine noch das andere. Stattdessen hob er sein Hemd auf, hielt es vor sich und sah es an, als habe er nie zuvor weißes Leinen gesehen. „Wie du weißt", begann er, „war ich vor bald sieben Jahren in den amerikanischen Kolonien. So kam ich dazu, mein Buch zu schreiben. So habe ich auch mein Auge verloren."
„Erzähl mir davon", flüsterte sie. Sie wagte kaum, sich zu regen, aus Angst, seinen Redefluss zu unterbrechen.
Er nickte. „Der Grund meiner Reise war es, neue Pflanzen und Tieren zu entdecken. Neue Arten entdeckt man am ehesten dort, wohin der Mensch noch nicht vorgedrungen ist, also in den Grenzgebieten der Zivilisation. Aber genau deshalb — und weil wir uns mit Frankreich im Krieg befanden —, war es auch nicht ganz ungefährlich, sich dort aufzuhalten. So schien es mir nur vernünftig zu sein, mich verschiedenen Regimentern unserer Armee anzuschließen. So habe ich drei Jahre in den Kolonien verbracht, bin mit ihnen marschiert, wohin sie zogen, habe unterwegs Proben gesammelt und geschrieben, wenn sie ihr Feldlager aufgeschlagen hatten."
Einen Moment schwieg er, den Blick noch immer auf das Hemd in seinen Händen gerichtet, dann schüttelte er den Kopf und sah sie an. „Vergib mir, ich zögere den eigentlichen Punkt meiner Geschichte unnötig hinaus." Er holte tief Luft, ehe er fortfuhr: „Im Herbst 1758 war ich mit einem eher kleinen Trupp unterwegs, dem 28. Infanterieregiment. Wir marschierten durch dichtes Waldgebiet, unser Ziel war Fort Edward, wo wir den Winter über bleiben wollten. Der Weg war so schmal, dass gerade zwei Mann nebeneinander gehen konnten, die Bäume standen so dicht, dass man kaum zwei Schritte nach vorn sehen konnte. So kamen wir nach Spinner's Falls ..."
Seine Stimme brach und verhallte, und über sein Gesicht glitt ein Ausdruck, den sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Verzweiflung. Fast hätte sie aufgeschrien.
Doch dann entspannte seine Miene sich wieder, er räusperte sich und sprach weiter. „Wir gerieten in einen Hinterhalt, wurden von zwei Seiten von den Franzosen und ihren indianischen Verbündeten angegriffen. Wir haben die meisten unserer Männer verloren." Ein leises Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Ich sage ,wir`, weil es während einer Schlacht keine unbeteiligten Zuschauer gibt. Obwohl ich eigentlich Zivilist war, habe ich genauso hart gekämpft wie jeder der Soldaten. Schließlich ging es uns allen um das Gleiche — unser Leben."
„Alistair", flüsterte sie entsetzt. Sie hatte gesehen, wie er die tote Lady Grey berührt, wie geduldig er Abigail das Angeln gelehrt hatte. Er war kein Mann, der leichtfertig zu Gewalt griff oder sich rasch von ihrem Grauen erholte.
„Nein", fuhr er dazwischen, als wolle er ihr Mitleid nicht. „Ich schweife schon wieder ab. Zusammen mit einigen anderen habe ich das Massaker relativ unbeschadet überstanden. Wir wurden von den Indianern gefangen genommen und mehrere Tage durch die Wälder getrieben, bis wir zu ihrem Lager gelangten."
Hier hielt er inne, blickte wieder auf sein Hemd und faltete es sorgfältig zusammen. Sie sah das Spiel seiner Muskeln im schwindenden Licht.
„Bei den Indianern gibt es nach gewonnener Schlacht einen Brauch", fuhr er fort. „Jeder Feind, der überlebt, wird gefangen genommen und gefoltert. Es ist ein Ritual, mit dem sie ihren Sieg feiern und dem Gegner seine Schwäche und seine Feigheit zeigen wollen. So habe ich es zumindest später irgendwo gelesen. Gut möglich, dass es gar kein Motiv für ihre Folter gibt — außer Grausamkeit. In unserer eigenen Geschichte gibt es ja genügend Beispiele dafür, dass Menschen einander nur zum Spaß ein Leid zufügen."
Er sagte es ruhig, seine Stimme kühl und distanziert, doch seine Hände hörten gar nicht mehr auf, das Hemd immer wieder neu zu falten. Helen merkte, wie ihr Tränen übers Gesicht strömten. Ob er währenddessen genauso gedacht hatte? Ob er versucht hatte, sich von dem Schmerz und dem Grauen abzulenken, indem er sich Gedanken über die Sitten und Gebräuche seiner Peiniger
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