Ein unerhörtes Angebot
vorgezogen. Bis zu diesem Augenblick war ihr nie mit solcher Schärfe zu Bewusstsein gekommen, wie bemitleidenswert sie aussehen musste, doch plötzlich fühlte sie sich entsetzlich befangen. Sie schämte sich ihres abgetragenen Kleides und der unfrisierten Haare und haderte mit ihrem Schicksal. Warum war er nicht fünf Minuten früher an ihre Tür gekommen, als sie noch eine ordentlich aufgesteckte Frisur gehabt und ihre guten Sachen getragen hatte?
Aber es war sinnlos, sich mit diesen Fragen zu quälen. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Sir, und bitte nehmen Sie meine Entschuldigung für das Missgeschick auf der Straße an. Der Fahrer hat Sie wahrscheinlich nicht gesehen. Glücklicherweise scheint Ihnen nichts zugestoßen zu sein.“
Er erlaubte sich ein trockenes Lächeln, und sie errötete wieder.
„Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, Mrs. Marlowe.“
Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stand Helen noch minutenlang da, den Blick starr auf die abblätternde Farbe der Tür gerichtet, und lauschte seiner leicht spöttischen Stimme nach.
„So passen Sie doch auf! Was müssen Sie denn so rasen, Robbins?“ Wütend beäugte Iris den Lakaien, mit dem sie beinahe zusammengestoßen wäre.
Der Dienstbote versuchte verzweifelt zu Atem zu kommen. „Ein Gentleman möchte Mr. Kingston sehen, ein gewisser Sir Jason Hunter. Er wartet unten.“
Iris’ mürrische Miene hellte sich auf. Ihre freudige Aufregung war so unverhohlen, dass der Diener ein höhnisches Grinsen unterdrücken musste. Als die Dame des Hauses ihn äußerst undamenhaft beiseiteschubste und zur Treppe eilte, schüttelte Robbins voller Abscheu den Kopf.
„Sir Jason! Was für eine angenehme Überraschung. Ich hoffe … nein, ich muss darauf bestehen, dass Sie bleiben und uns beim Dinner Gesellschaft leisten.“ Ihr Ton war flirtend, und mit der Hand auf dem Geländer nahm Iris eine verführerische Pose ein, bevor sie in ihrem raschelnden himmelblauen Seidenkleid die Stufen herunterschwebte. Mit verschämt gesenkten Lidern kam sie näher und sah erst zu ihm auf, als sie dicht vor ihm stand. Sein Anblick brachte ihr Herz zum Klopfen und zauberte ein Lächeln auf ihre rosigen Lippen.
„Vielen Dank für die Gastfreundschaft. Aber mein Besuch ist nicht gesellschaftlicher Natur. Wo ist Ihr Gemahl?“
Bei dem eisigen Ton seiner Stimme zuckte Iris zusammen, wollte indes die Hoffnung nicht aufgeben, dass Jason in Wahrheit gekommen war, um sie zu sehen. Seine brüske Art musste darauf zurückzuführen sein, dass er ihr nicht zu erkennen geben wollte, wie sehr er sich nach ihrer Gesellschaft sehnte. Und der Himmel wusste, dass es eine Torheit war, sie zu Hause zu besuchen, wo sich doch alle die Mäuler über sie zerrissen. In der Öffentlichkeit mochte er ja den Unnahbaren spielen, aber Iris sagte sich, dass auch das nur eine List war, um seine ungestümen Gefühle für sie zu verbergen. Und zweifellos würde er bald seinen geheimen Sehnsüchten nachgeben und sich ihr erklären. Außerdem war es ohnehin ausgeschlossen, dass er diese gewöhnliche Mrs. Tucker ihr vorzog!
Sie strich mit den schlanken, ringgeschmückten Fingern über die schimmernde Seide ihres Rocks und war froh, dass sie dieses Kleid gewählt hatte. Es betonte die Farbe ihrer Augen, und das enge Mieder brachte ihren Busen wunderbar zur Geltung.
„Was wollen Sie, Hunter?“
George war aus seinem Arbeitszimmer geeilt, sobald sein atemloser Diener ihn von Sir Jasons Ankunft unterrichtet hatte. Er kniff misstrauisch die Augen zusammen, als er sah, wie dicht seine Frau und der unverschämte Kerl beieinanderstanden.
„Ich möchte mit Ihnen sprechen“, erwiderte Jason knapp. Er ging an Iris vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Kann das nicht bis morgen warten? Wir standen im Begriff, zu Tisch zu gehen.“
„Ihre Gattin hat mich aufgefordert, zum Dinner zu bleiben. Wollen Sie, dass ich die Einladung annehme, oder ziehen Sie es vor, unser Geschäft zu besprechen, damit ich rasch wieder verschwinde?“
„Würde es dir etwas ausmachen, dich zurückzuziehen, meine Liebe?“ Der Ton, mit dem George das Wort an Iris richtete, war höflich, doch sein Blick ließ keinen Zweifel an seinen Wünschen. „Bitte Mrs. Jones, mit dem Servieren zu warten. Es wird nicht lange dauern.“
Mit einem gezwungenen Lächeln und einem Knicks ließ Iris die beiden Männer allein. Bevor sie die Treppe zu den Wirtschaftsräumen hinunterging, sah sie noch, wie ihr Gatte den Gast
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