Ein unerhörtes Angebot
nicht zum Hahnrei gemacht und hege nicht die mindeste Absicht, es je zu tun.“
Helens Herz setzte einen Schlag aus und pochte dann umso schneller weiter. Sie hatte mit allem gerechnet – nur nicht damit, dass er ausgerechnet dieses Thema mit George besprechen würde. „Wie dem auch sei, Sir“, erklärte sie steif, „aber dass man allgemein das Gegenteil annimmt, haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Wenn Sie die Unverschämtheit besaßen, mit meiner Schwägerin zu flirten, hätte Ihnen klar sein sollen, dass über Sie geklatscht würde.“
„Ich flirte schon seit zehn Jahren nicht mehr, Mrs. Marlowe. Außerdem sollten Sie wissen, dass Ihr Bruder ein wahrer Unruhestifter ist, wenn es um mich geht. Und es würde mich nicht wundern, wenn seine Frau ihm darin ähnelte.“
Er irrte sich leider nicht mit seiner Vermutung. Helen glaubte ihm, dass er zu Unrecht beschuldigt wurde und sehr wohl das Recht gehabt hätte, sich nachhaltiger zu beschweren als nur mit einer trockenen Bemerkung. Und trotzdem gefiel es ihr nicht, auch nur einen sanften Tadel von ihm entgegennehmen zu müssen. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte, dieselbe Gelassenheit an den Tag zu legen wie Jason.
Sie ertappte sich bei dem Wunsch, er möge endlich gehen, während sie gleichzeitig seine Gesellschaft nicht missen mochte. Es war etwas an ihm, das sie einschüchterte und dennoch über die Maßen anzog. In jedem Fall schien er es nicht eilig zu haben, sich zu verabschieden, obwohl er sie längst über die Kohlelieferung informiert hatte. Falls er ihr die Zeit geben wollte, ihren Bruder oder ihre Schwägerin zu verteidigen, würde er lange warten müssen. Zu derartiger Heuchelei war sie nicht fähig.
Unausgesprochene Worte schienen zwischen ihnen zu schweben. Helen spürte, dass Jason sie herausforderte, ihm ihre innersten Gedanken anzuvertrauen, und sie lagen ihr auch bereits auf der Zunge. Warum sehen Sie mich so an? Wollen Sie gar nicht meine Schwester, sondern mich?
Sie presste die Lippen zusammen, weil sie nicht sicher sein konnte, dass sie diese beschämenden Fragen nicht aussprechen würde. Jason Hunter hatte sie voller Spott wissen lassen, dass er als unter seiner Würde erachtete, eine Witwe dazu zu zwingen, das Bett mit ihm zu teilen. Aber wenn sie nun gar nicht gezwungen werden musste?
Sie wandte den Kopf ab, um die Röte zu verbergen, die ihr erneut in die Wangen stieg. Es war nicht seine verwirrende Gegenwart, die sie verlegen machte, sondern ihre eigene beunruhigende Haltung zu ihm. Bisher hatte sie sich stets für vernünftig erachtet, doch der Gedanke, Jason Hunter könnte sie womöglich begehren, erschien ihr über die Maßen verstörend – schließlich wusste sie, wie jeder in den Kreisen der guten Gesellschaft, dass er Mrs. Tucker die Position gegeben hatte, die Iris so unverhohlen anstrebte.
Vor einigen Monaten war ihr auf einem Spaziergang mit Charlotte und Emily Beaumont, einer gemeinsamen Freundin, eine sehr reizvolle junge Frau aufgefallen, die anmutig aus einer glänzenden Kutsche mit einem Gespann prachtvoller Grauer stieg. Emily hatte ihnen zugeflüstert, dass es sich bei der Dame um Sir Jasons Mätresse handelte.
Diana Tucker war kurz darauf zuversichtlichen Schritts im Laden einer Putzmacherin verschwunden, und Helen hatte nachdenklich ihre modische Erscheinung betrachtet. Die Überlegenheit und Eleganz Mrs. Tuckers vermittelten eher den Eindruck, dass es sich bei der Dame um die Tochter eines Edelmanns handelte und nicht um die berüchtigte Kurtisane, die sie wirklich war.
Diana Tuckers blaues Samtkleid, nach der neuesten Mode gefertigt, erschien vor ihrem inneren Auge, ebenso der Federhut, der in keckem Winkel auf ihren hübschen blonden Locken gethront hatte. Selbst den Duft ihres teuren Parfums meinte Helen wieder zu riechen. Unwillkürlich schweifte ihr Blick zu ihrem eigenen eintönigen Rock und den verschlissenen Manschetten ihrer Ärmel. Sie sah den Ruß an ihren Fingern und begann sie geistesabwesend zu reiben, und dann fiel ihr ein, dass ihr Gesicht ebenfalls schmutzig war und ihr Haar unordentlich. In diesem Moment wurde ihr bewusst, wie lächerlich sie sich machte, wenn sie glaubte, einen so reichen und begehrten Baronet für sich gewinnen zu können. „Vergeben Sie mir, Sir, aber wir haben wohl alles gesagt, was es zu sagen gab. Meine Schwester wird bald zurückkehren, und …“
„Und Sie möchten, dass ich gehe“, beendete er ihren Satz trocken.
Helen
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