Ein unerhörtes Angebot
Herz brach. Sein derangiertes Äußeres ließ ihn so jungenhaft und verletzlich erscheinen, dass Helen versucht war, ihm das zerzauste Haar glatt zu streichen.
Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht gar nicht früh aus dem Haus gegangen war, sondern erst jetzt wieder heimkam. Womöglich hatte Mrs. Tuckers Kuss dazu geführt, dass er die Nacht bei ihr verbracht hatte. Er machte in jedem Fall den Eindruck eines erschöpften Mannes.
Helens Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Und sie war so töricht gewesen, zu glauben, dass er in aller Frühe ausgegangen war, um sie zu aufzusuchen! Die Hände, mit denen sie ihn eben noch so gern gestreichelt hätte, ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Sie würde sich nicht von ihrer belanglosen Eifersucht davon ablenken lassen, zu beanspruchen, was er ihr versprochen hatte.
„Komm in die Bibliothek, damit wir uns in Ruhe unterhalten können“, drängte Jason sie sanft und streckte die Hand aus. Mit der anderen fuhr er sich zerstreut über das unrasierte Kinn, als bedauere er seine unordentliche Erscheinung.
Helen ignorierte seine ausgestreckte Hand. Sie trat ein paar Schritte von ihm fort und bemühte sich um Gelassenheit. „Es gibt keinen Grund, lange zu bleiben“, erklärte sie fest. „Hier haben wir genügend Ruhe, und was ich zu sagen habe, wird nur einen Augenblick dauern.“ Sie bemerkte die Veränderung in seinem Verhalten, als ihm ihre Kälte bewusst wurde.
„Ich wäre dankbar, wenn Sie mir meine Abfindung so bald wie möglich zukommen lassen könnten. Und ich vertraue darauf, dass die Ereignisse des gestrigen Abends in keiner Weise Philips Zukunft beeinträchtigen werden. Das ist alles. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Sir.“ Hastig ging sie an Jason vorbei in Richtung Ausgang. Sie hatte die schwere Eichentür eben erreicht, als er neben sie trat und sie für sie öffnete.
Mit einer stummen Geste bedeutete er ihr hinauszugehen. Helen folgte seiner Aufforderung so eilig, dass sie fast gestolpert wäre. Als sie den Fuß der Eingangstreppe erreicht hatte und sich zum Gehen wandte, wurde sie plötzlich festgehalten.
„Steig ein“, befahl Jason in unnachgiebigem Ton, während er den Kutschenschlag aufriss.
Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er packte nur noch fester zu. „Steig ein, Helen … bitte. Zwing mich nicht, dich zu entführen“, setzte er heiser hinzu.
Helen biss die Zähne zusammen und ließ sich beim Einsteigen helfen. Mit einer kraftvollen Geschmeidigkeit, die sein abgespanntes Aussehen Lügen strafte, kletterte Jason hinter ihr in die Kutsche und setzte sich ihr gegenüber. Sein Blick ruhte einen Moment finster auf ihr, bevor er dem Kutscher Anweisung gab, sie zum Hyde Park zu fahren.
„Warum fahren wir dorthin?“, wollte Helen wissen.
„Warum nicht? Dort hast du mich verführt, also ist es nur angemessen, wenn du mir dort auch den Laufpass gibst.“
Sein spöttischer Ton ließ Helen erröten. „Ich finde das nicht im Geringsten amüsant. Sie können mich heimbringen, nirgendwohin sonst.“
„Philip und Anne sind bei Charlotte zu Besuch. Bist du sicher, dass du dort mit mir reden willst?“
Helen musterte ihn verwundert. „Du warst im Westlea House?“
„Ja.“
„Um mir zu sagen, dass du mir meine Abfindung zukommen lassen wirst?“, flüsterte sie.
„Nein.“
„Warum dann?“
„Ich hatte dir versprochen, dass du die Erste bist, die es erfährt, wenn ich mich verliebe oder heiraten will.“
Damit hatte sie keinen Augenblick gerechnet. Unwillkürlich presste sie die Hand auf ihren Magen, als könne sie so die plötzliche Übelkeit unterdrücken. Einen Moment später brachte sie mühsam hervor: „Und welches von beiden ist es? Liebe oder Heirat?“
„Beides.“
„Ich verstehe“, erwiderte sie tonlos. „Du brauchst es nicht näher auszuführen.“ Sie hatte das Gesicht abgewandt und sah starr auf die Straße hinaus. Die Kinder, die dort mit einem Reifen spielten, schienen eine große Faszination auf sie auszuüben. Sie reckte den Hals, um ihnen weiter zuzusehen, obwohl das hübsche Bild allmählich vor ihren Augen verschwamm. „Ich kann von hier aus zu Fuß gehen. Bitte lass mich aussteigen …“
„Willst du nicht wissen, wer es ist?“
Helen schüttelte den Kopf, ohne Jason anzusehen. „Ich kann es mir denken.“ Ein seltsam ersticktes Lachen entfuhr ihrer schmerzenden Kehle. „Ich fürchte, der Klatsch ist dir zuvorgekommen. Heute Morgen besuchte mich meine Schwägerin und
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