Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Orientteppiche und weiche Kissen, auf niedrigen Tischen standen Obstschalen, Käseplatten und mit Puderzucker bestäubte Süßigkeiten. Beatrice seufzte träge, und Vivienne lächelte ihrer entspannten Freundin zu.
Sie hatten ein ereignisreiches halbes Jahr miteinander verbracht, dachte Vivienne. Sie hatte Beatrice im April am Bahnhof von Paris abgeholt und sofort gesehen, dass sich eine Katastrophe ereignet haben musste. Die Schwedin war so mager und hohläugig, dass Vivienne erschrak.
Dann waren die beiden plaudernd nach Rouen weitergefahren und von dort zu Viviennes Schloss, Château Morgaine. Sie hatten sich über das Wetter unterhalten, über Stockholm und Frankreich, doch nicht über das, was Beatrice widerfahren war. Auf der Fahrt blickten sie hinaus ins frühlingshafte Grün und stellten dabei fest, dass die Verwandtschaft von Beatrices Mutter ganz in der Nähe gewohnt hatte. Sie waren sich einig, dass es sich dabei um einen bemerkenswerten Zufall handelte und die Welt doch klein war – aber noch immer hatten sie mit keinem Wort über Beatrices traurigen Zustand gesprochen.
Wahrscheinlich hatte Beatrice geglaubt, dass sie ihr Trauma einfach mit sich allein ausmachen konnte. In Schweden war sie von ihren erschütterten Freunden ja auch in Frieden gelassen worden. Doch als die sonnigen normannischen Tage langsam den Frühsommer ankündigten, hatte Vivienne ihr behutsam, aber hartnäckig die ganze Geschichte entlockt.
Und was war das für eine traurige Geschichte!
In Schweden hatte keiner begriffen, was Beatrice am allermeisten brauchte, dachte Vivienne. Ihre Freunde hatten es nicht vermocht, sich ihre Geschichte in allen beschämenden Details anzuhören, keiner hatte es gewagt, mit ihr durch diesen Schmerz zu gehen. Doch Vivienne war aus hartem gallischem Holz geschnitzt. Ihre Familie hatte seit Christi Geburt Krieg, Folter, Hungersnöte und Krankheiten überlebt, und Vivienne war weiß Gott mit dem Elend vertraut, das eine junge Frau in einer arrangierten Ehe ereilen konnte. Daher hatte sie es gewagt, all die unangenehmen Fragen zu stellen, und sie hatte auch die unangenehmen Antworten ausgehalten. Sie hatte die Kraft besessen, mit Beatrice die immer noch lebendigen Qualen zu durchleben, und am Ende hatte Beatrice endlich angefangen zu reden. Und zu weinen. Wie der Eiter aus einer Wunde quillt, so waren die Worte und Tränen aus Beatrice hervorgebrochen, und dann hatte der Heilungsprozess endlich seinen Anfang nehmen können. Vivienne wusste, dass die schlimmsten Albträume nun endlich überstanden waren. Beatrice fuhr nicht mehr zurück, wenn jemand sie berührte, und allmählich konnte sie auch wieder mit älteren blonden Herren sprechen, ohne gleich von Panik erfasst zu werden.
«Woran denkst du?», fragte Beatrice schläfrig.
Vivienne schüttelte ihre düsteren Gedanken ab und lächelte ihrer Freundin zu. «Ich glaube, keiner der geladenen Gästen hat abgesagt», erklärte sie zufrieden. «Das Erntefest wird großartig werden.»
«Ich finde, deine Feste sind immer großartig», antwortete Beatrice. «Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie du das immer schaffst. Seit ich hier bin, hatten wir das Aprilfest, das Pfingstfest, den Frühlingskarneval, Mittsommer …»
Mit einer Handbewegung unterbrach Vivienne ihre Aufzählung. «Die Erntefeste meiner Familie sind legendär. Sie haben eine jahrhundertealte Tradition.»
«Ich bin sicher, es wird ein großer Erfolg», meinte Beatrice aufrichtig. «Wer kommt denn alles?»
«Ich bin froh, dass du fragst. Alexandre kommt natürlich, aber das muss ich dir ja wohl kaum sagen.» Vivienne sah sie neugierig an. «Wie läuft es eigentlich mit euch beiden?»
Beatrice zuckte mit den Schultern und nahm sich ein Stück Camembert. «Ich nehme an, Jacques kommt auch?», fragte sie und steckte sich den Käse in den Mund. «Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.»
«Er kommt und hat mir versprochen, hundert Flaschen Champagner mitzubringen», erwiderte Vivienne.
Beatrice lauschte Viviennes beruhigendem Geplauder, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was passiert wäre, wenn sie nicht hierhergekommen wäre.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie zum ersten Mal in ihrem Leben den Fuß auf französischen Boden gesetzt hatte. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie endlich nach Hause gekommen – und es war einfach wunderbar gewesen, Schweden hinter sich zu lassen.
Hjalmar Hielm hatte es so eingerichtet, dass ihr das Erbe und die Mieteinnahmen von
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