Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
sah Mary ihr nach, dem zornigen Rücken und dem schmutzigen Haar, das immer noch niemand anrühren durfte. Mit zitternder Hand hob sie ihre Tasse. Die Dinge liefen nicht so, wie sie sollten.
In der Nacht lag Beatrice wach und grübelte. Das ist einer der Vorteile, wenn man nicht schlafen kann, dachte sie, man hat so viel Zeit zum Nachdenken. Als der Morgen graute, hatte sie einen Entschluss gefasst. Rasch zog sie sich an.
«Ich bitte um Entschuldigung, dass ich deinen Brief gelesen habe, und es tut mir leid, dass ich gestern so unfreundlich war», sagte sie zu Mary, als sie ins Frühstückszimmer kam.
«Wie geht es dir heute?», erkundigte sich Mary, die die Entschuldigung mit einem Nicken angenommen hatte. Beatrice setzte sich und ließ sich Kaffee servieren.
«Ich kann nicht zulassen, dass du dir so eine Gelegenheit entgehen lässt», kam Beatrice gleich zum Thema.
«Du bedeutest mir mehr als …», begann Mary zu protestieren, doch Beatrice schüttelte den Kopf und fiel ihr ins Wort.
«Ich habe mich entschieden», erklärte sie. «Du bekommst einen letzten Lohn von mir. Und ich würde Olav Erlingsen und dir gerne einen Beitrag zu eurer Schule geben. Ich will dich nicht mehr als Gesellschafterin.» Sie hob die Tasse an die Lippen. «Das bedeutet sozusagen, dass ich dich hinauswerfe», fügte sie hinzu. «Selbstverständlich werde ich dir ein hervorragendes Zeugnis ausstellen, und ich würde mich freuen, wenn wir Freundinnen blieben, aber im Moment solltest du wohl wirklich lieber nach Norwegen fahren.»
«Ich lasse dich nicht allein, ich bleibe hier. Du brauchst mich nicht zu bezahlen, aber ich lasse dich nicht allein», beharrte Mary.
Beatrice lächelte. Vorsichtig stellte sie ihre Tasse auf die Untertasse. «Ich werde nicht auf Rosenholm bleiben. Ich habe Samuel nach Stockholm geschickt, damit er den Landeshauptmann noch heute herholt. Hjalmar soll mir helfen, Rosenholm zu vermieten oder zu verkaufen.» Sie spielte mit den Fingern an ihrer Tasse und sah aus dem Fenster. Sie wusste, dass sie nie wieder hierher zurückkommen würde. «Ich werde nach Frankreich reisen», erklärte sie. Mary sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. Vielleicht war sie das, aber sie konnte einfach nicht hierbleiben. «Vivienne de Beaumarchais hat mir mehrfach geschrieben und mich gebeten, sie in der Normandie zu besuchen», fuhr sie fort. «Sie hat mich eingeladen, den Sommer bei ihr zu verbringen.» Sie glättete ihr schlichtes Kleid und stellte fest, dass es schmutzig war. Es wurde wohl Zeit, etwas anderes anzuziehen, dachte sie. «Anfang April reise ich ab, ich brauche eine Luftveränderung. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber wenn du etwas für mich tun willst, dann fahr nach Norwegen. Du kannst mir nicht die Schuld dafür geben, dass du auf deine Träume verzichtest, das musst du verstehen.»
Mary betrachtete sie lange, bis sie schließlich zu einer Entscheidung kam. «Gut. Ich fahre nach Norwegen, wenn du mir versprichst, dass du regelmäßig schreibst.»
Beatrice nickte. «Abgemacht.»
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33
Château Morgaine, Normandie, Frankreich
September 1882
«Weißt du, wenn mich jemand fragen würde, wie das Paradies aussieht, dann würde ich sagen: Genau so sieht es aus.» Beatrice wies mit der Hand auf die fruchtbare normannische Landschaft, die sich vor ihnen ausbreitete. Schwarzbunte Kühe grasten auf den Weiden, und die Septemberluft war gesättigt mit dem Duft von Lavendel und Thymian.
«Und du wärst der schönste Engel des Paradieses, chérie », sagte der schwarzhaarige Mann, der auf dem Pferd neben ihr saß. Er nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen.
Lächelnd zog Beatrice die Hand zurück. «Versuch nicht, mich schon wieder abzulenken, Alexandre.» Sie zeigte auf einen Hügel. «Wollen wir sehen, wer zuerst an dem Hügel dort ist?»
«Ist das denn nicht zu weit für dich? Du reitest im Damensattel», meinte Prinz Alexandre St. Cyr D’Aubigny.
Beatrice lachte laut auf und trieb ohne jegliche Vorwarnung ihr Pferd zum Galopp. Sie genoss es, die unmittelbare, explosive Kraft unter sich zu spüren. Mit einem Jubelschrei folgte Alexandre, und gemeinsam donnerten sie über die Wiese.
Am Nachmittag ruhten sich Vivienne und Beatrice unter einem großen Sonnensegel aus, das man zwischen den Apfelbäumen gespannt hatte. Vivienne steckte sich eine Traube in den Mund und betrachtete Beatrice, die mit geschlossenen Augen auf einem Kissen ruhte. Überall auf der Wiese lagen
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