Ein unmoralisches Angebot
Erklärungen abgebe.“ Peinlich berührt wurde er sich bewusst, dass er schwafelte. Miss Sheridans große, schöne Augen waren auf ihn gerichtet und drückten leichte Verwunderung aus.
Sie nahm den Brief an sich und seufzte leicht.
„Aber er ist …“
„Von Ihrem verstorbenen Bruder. Ja, Madam.“ Mr. Churchward bediente sich seiner für alle Zwecke geeigneten ernsten Miene, war jedoch überzeugt, lediglich den ängstlichen Gesichtsausdruck eines Menschen aufgesetzt zu haben, der eine Situation nicht vollständig in der Hand hat. „Vielleicht lesen Sie, was Lord Sheridan Ihnen geschrieben hat.“
Miss Sheridan machte keine Anstalten, den Brief zu öffnen. Mit gesenktem Kopf betrachtete sie die ihr vertraute Handschrift, und das Sonnenlicht ließ die unter der Haube hervorlugenden Strähnen ihres Haars golden und bernsteinfarben schimmern.
„Kennen Sie den Inhalt dieses Briefs, Mr. Churchward?“
„Nein, Madam, ich kenne ihn nicht.“ Der Anwalt hatte leicht vorwurfsvoll geklungen, ganz so, als sei von Lord Sheridan ein schwerer Fauxpas begangen worden, indem er ihn nicht in den Inhalt des Schreibens eingeweiht hatte.
Sarah betrachtete einen Moment lang sein Gesicht und ging dann langsam zum Schreibtisch. Mr. Churchward hörte, wie sie den Umschlag mit einem Brieföffner aufschlitzte, und war erleichtert. Bald würde man das Schlimmste wissen.
In dem kleinen Raum herrschte Stille. Mr. Churchward konnte von der Küche her Stimmen und das Klirren von Geschirr hören. Er schaute sich um und sah die Bücherregale an, die mit Bänden, an die er sich von Blanchland her erinnerte, voll gestellt waren. Es waren Werke, die Sir Ralph Covell achtlos aus dem von Lord Sheridan, seinem Großcousin, geerbten Haus geworfen und die Miss Sheridan sehr gern in ihr neues Heim mitgenommen hatte.
Sie schwieg lange, ging schließlich zu dem Ohrensessel, der vor dem Kamin Mr. Churchwards Fauteuil gegenüberstand, und setzte sich. Der Brief fiel ihr auf den Schoß. Dann schaute sie dem Anwalt in die Augen.
„Ich glaube, ich sollte Ihnen Franks Brief vorlesen, Mr. Churchward.“
„Gern, Madam.“ Erwartungsvoll sah er sie an.
„Meine liebe Sarah“, begann sie in trockenem Ton. „Wenn du diesen Brief erhältst, bin ich tot. Du musst mir einen Gefallen tun. Es tut mir leid, dass ich dich darum bitten muss, altes Mädchen. Aber ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu sonst jemandem. Also, es geht um Folgendes. Ich habe eine Tochter. Ich weiß, das überrascht dich, und ich bedauere, dass ich dir nichts von ihr erzählt habe. Ehrlich gesagt, habe ich gehofft, dass du das nie erfahren wirst. Natürlich wusste Vater Bescheid. Er hat auch die üblichen Arrangements getroffen. Da weder er noch ich noch am Leben sind, braucht das Kind jemanden, an den es sich Hilfe suchend wenden kann. Deshalb habe ich an dich gedacht. Mr. Churchward wird dir den Rest erzählen. Ich kann dir nur danken und sagen, Gott schütze dich. Dein dich liebender Bruder Frank.“
Miss Sheridan seufzte. Mr. Churchward seufzte. Jeder von ihnen dachte in seiner Weise an den unbekümmerten Frank, Lord Sheridan, der so bedenkenlos ein Kind in die Welt gesetzt, vielleicht fröhlich Vorkehrungen für dessen Zukunft getroffen, aber der Sache nicht die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Mr. Churchward konnte sich vorstellen, wie Lord Sheridan einen solchen Brief an ihn abgeschickt hatte, bevor er sich in einem weiteren verrückten Versuch, ein Vermögen zu erwerben, der Ostindien-Gesellschaft angeschlossen hatte.
„Mr. Churchward, können Sie mehr Licht in diese geheimnisvolle Angelegenheit bringen, wie Frank das andeutet?“
Miss Sheridan hatte ihn aus den Gedanken gerissen. Er seufzte ein weiteres Mal. „Ich gestehe, Madam, dass ich über Miss Merediths Existenz Bescheid wusste. Ihr verstorbener Vater … Vor siebzehn Jahren kam Lord Sheridan zu mir und bat mich, Regelungen für ein Kind zu treffen. Ich dachte …“
„Sie haben angenommen, es sei sein Kind, nicht wahr?“, fragte Sarah ruhig. Mr. Churchward hätte schwören können, dass er einen Moment lang ein belustigtes Aufflackern in ihren Augen sah, einen Ausdruck, der bei einer jungen Dame, nachdem sie Kenntnis von einem Fehltritt in ihrer Familie erlangt hatte, ganz sicher unangebracht war.
„Nun, ich glaubte …“Verlegen hielt er inne, weil er wusste, wie gefährlich es für einen Anwalt war, Vermutungen zu äußern.
„Die Schlussfolgerung lag auf der Hand“, sagte Sarah freundlich,
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